LEXPRESS Bauen in lärmbelasteten Gebieten

Zürcher Gerichte haben drei Baubewilligungen für grosse ­Arealüberbauungen mit hunderten von Wohnungen aus l­ärmschutzrechtlichen Gründen aufgehoben. Das hat grosse Wellen geworfen, obwohl sich diese Entscheide auf die ­bundesgerichtliche Rechtsprechung zurückführen lassen. Die Fälle zeigen, dass dem Lärmschutzrecht, obwohl es seit 1985 unverändert gilt, nach wie vor zu wenig Beachtung geschenkt wird. Aus den erwähnten Zürcher Entscheiden können Bauherrschaften in der ganzen Schweiz wertvolle Schlüsse ziehen. Wir fassen deshalb die wichtigsten Grundlagen und Erkenntnisse im vorliegenden LEXpress Baurecht zusammen.

1. Rechtliche Ausgangslage

Nach Art. 22 USG ist der Bau von lärmempfindlichen Räumen in Gebieten, in denen die Immissionsgrenzwerte (IGW) überschritten sind, grundsätzlich verboten. Lärmempfindliche Räume sind Räume in Wohnungen (ausgenommen Küchen ohne Wohnanteil, Sanitärräume und Abstellräume) und Räume in Betrieben, in denen sich Personen regelmässig während längerer Zeit aufhalten (ausgenommen Räume mit erheb­lichem Betriebslärm) (Art. 2 Abs. 6 LSV). Die Einhaltung der IGW ist am offenen Fenster jedes lärmempfindlichen Raums zu messen (Art. 39 Abs. 1 LSV). In Gebieten, in denen die IGW ­überschritten sind, dürfen Gebäude mit solchen Räumen nur ausnahmsweise bewilligt werden, nämlich, wenn das «Gebäude» gegen Lärm abgeschirmt ist (Art. 31 Abs. 1 lit. b LSV) oder aber die «lärmempfindlichen Räume» auf der dem Lärm abgewandten Seite des Gebäudes angeordnet werden (Art. 31 Abs. 1 lit. a LSV). Zweck dieser Bestimmungen ist, Menschen vor bestehendem, schädlichem oder lästigem Lärm zu schützen. Was schädlich oder lästig ist, bringen die fest­gelegten IGW zum Ausdruck.

2. Lüftungsfensterpraxis

Das Bauverbot nach Art. 22 USG konnte mit der sogenannten Lüftungsfensterpraxis erheblich gemildert werden. Nach dieser genügte es, wenn die Einhaltung der IGW (Wert am Tag und Wert in der Nacht) an demjenigen Fenster des lärmempfindlichen Raums gemessen wurde, das am wenigsten dem Lärm ausgesetzt ist. Das Bundesgericht hat die Lüftungsfensterpraxis für bundesrechtswidrig erklärt. Das Lärmschutzrecht verlange, dass die IGW an allen Fenstern lärmempfindlicher Räume eingehalten werden, ansonsten der vom Gesetzgeber gewollte Gesundheitsschutz ausgehöhlt werde.(1)

Natürlich erkannte das Bundesgericht, dass die Ablehnung der Lüftungsfensterpraxis zu höheren Anforderungen an das Bauen in lärmbelasteten Gebieten führt. Insbesondere kann es zu einem Konflikt mit dem Ziel der haushälterischen Boden­nutzung bzw. der inneren Siedlungsverdichtung kommen, wenn aus lärmschutzrechtlichen Gründen nicht mehr gebaut werden könnte. Das führt – gerade im Zusammenhang mit dem Strassenlärm – zu Druck auf die Gemeinden, für ruhigere Gebiete zu sorgen. Ebenso führt es zum Druck auf die Bauherrschaften, ihre Projekte für Wohnüberbauungen lärmoptimiert zu gestalten und damit die Voraussetzungen zu schaffen, eine Ausnahmebewilligung für Gebäude mit lärmempfindlichen Räumen zu erhalten (Art. 31 Abs. 2 LSV).

3. Anforderungen an Neubauten in lärmbelasteten Gebieten (Art. 31 Abs. 1 LSV)

Baubewilligungen für neue Gebäude mit lärmempfindlichen Räumen dürfen grundsätzlich nur erteilt werden, wenn die Immissionsgrenzwerte eingehalten werden (Art. 22 Abs. 1 USG). Das bedeutet gerade an lärmigen Strassen Mehr­aufwand. Sind die Immissionsgrenzwerte überschritten, so sind zusätzliche Anstrengungen zu unternehmen, um die ­Immissionsgrenzwerte einzuhalten. So sind die lärmempfindlichen Räume möglichst abgewandt von der Lärmquelle ­anzuordnen. Sodann ist das Gebäude vor Lärmeinwirkungen zu schützen (Art. 31 Abs. 1 LSV). Es geht um die Anordnung der Baukörper, der Nutzungen sowie der Wohnungsgrundrisse.(2) Das ist Aufgabe der Architekten und Planer zusammen mit Akustikern.

Die Anforderungen an den Lärmschutz sind gewöhnliche Rahmenbedingung für die Projektierung von Wohnbauten. Es handelt sich um eine Rahmenbedingung wie die Normen über die zulässigen Baumasse (Gesamthöhe, Nutzungsziffern etc.). Wird ein Wettbewerb durchgeführt, ist schon in den Wettbewerbsbedingungen die Einhaltung des Lärmschutzes zu verlangen. Nur so lassen sich Siegerprojekte vermeiden, welche wegen Missachtung des Lärmschutzrechts nicht bewilli­gungsfähig sind. Wird dem Lärmschutz nicht von Anfang an Rechnung getragen, lässt sich das kaum noch korrigieren.

Festverglaste Fenster sind keine Lärmschutzmassnahme. Sie werden wie öffenbare Fenster beurteilt. Komfortlüftungen sind ebenfalls ohne Bedeutung, weil sie keinen Einfluss auf die Lärmmessung im offenen Fenster haben.

Genau wie die anderen Vorgaben erfordert auch der Lärmschutz innovative und kreative Ideen. Oft wird der Beizug von Spezialisten unumgänglich sein. Die Architektur und die Bauausführung werden tendenziell aufwändiger. Zum Beispiel erfordern zweiseitig orientierte Wohnungen schmalere Baukörper mit aufwendigerer energetischer Dämmung und mehr Treppen. Die Grundeigentümer tragen die Kosten für die Massnahmen (Art. 31 Abs. 3 LSV).

4. Lärmschutzrechtliche Ausnahmebewilligung (Art. 31 Abs. 2 LSV)

Können die Immissionsgrenzwerte trotz aller lärmoptimierender Massnahmen nicht eingehalten werden, sieht das Lärmschutzrecht in einem zweiten Schritt die Möglichkeit einer Ausnahmebewilligung vor. Diese bedingt aber, dass sämtliche verhältnismässigen Massnahmen nach Art. 31 Abs. 1 LSV ausgeschöpft worden sind (Art. 22 Abs. 1 USG). Es ist an der Bauherrschaft, den Nachweis zu erbringen, dass diese Voraussetzung erfüllt ist. Die Ausnahmebewilligung kommt nur als «ultima ratio» in Betracht. Sie setzt überdies voraus, dass an der Errichtung des Gebäudes ein überwiegendes Interesse besteht und die kantonale Behörde zustimmt (Art. 31 Abs. 2 LSV).(3)

4.1 Nachweis, dass alle verhältnismässigen Massnahmen ausgeschöpft sind

Für den Nachweis, dass sämtliche verhältnismässigen Massnahmen im Sinne von Art. 31 Abs. 1 LSV ausgeschöpft sind, ist nachvollziehbar und begründet darzulegen, welche Massnahmen geprüft, gewählt oder verworfen wurden. Die Prüfung und der Nachweis haben im Baubewilligungsverfahren zu erfolgen. Das ergibt sich direkt aus Art. 31 Abs. 2 LSV, denn die Bestimmung ist ohne diese Obliegenheit der Baugesuchstellerin nicht anwendbar.(4)

Dieser Nachweis muss gründlich sein. Er kann durch einen entsprechenden Bericht des Architekten, eventuell durch einen Lärmexperten erfolgen. Die Baubewilligungsbehörde wird im Zweifelsfall ein Gutachten einholen. Die Fachstelle Lärm des Tiefbauamts des Kantons Zürich hat im Nachgang zu den eingangs erwähnten Urteilen «Empfehlungen für den Bau­bewilligungsprozess – Vollzug von Art. 31 LSV» herausgegeben, welche Hinweise für das Prüfprogramm und für geeignete Lärmmassnahmen geben.

4.2 Überwiegendes Interesse an der Errichtung des Gebäudes

Das Instrument der Ausnahmebewilligung dient der Entschärfung des Zielkonflikts zwischen Lärmschutz und der raumplanerisch gebotenen Siedlungsverdichtung. Der Entscheid über die Zustimmung gemäss Art. 31 Abs. 2 LSV verlangt eine Interessenabwägung.(5) Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann das Interesse an der Errichtung des Gebäudes trotz überschrittenem IGW überwiegen, wenn das Bauvorhaben im weitgehend überbauten Gebiet geplant ist, ein akuter Bedarf an Wohnraum besteht, die Immissionsgrenzwerte nicht erheblich überschritten sind und ein angemessener Wohnkomfort sichergestellt ist.(6)

Ob ein Projekt im weitgehend überbauten Gebiet liegt, ist einfach festzustellen. Ein akuter Bedarf an Wohnraum ist in der Regel an urbanen Lagen gegeben.

Schwieriger zu beurteilen ist hingegen, ob die Überschreitung der Immissionsgrenzwerte erheblich ist und ob ein angemessener Wohnkomfort sichergestellt bleibt. Die Voraussetzungen – Erhalt des Wohnkomforts etwa mit Lüftungsfenstern und keine erhebliche Grenzwertüberschreitung – sind kumulativ anzuwenden. Die Lüftungsfensterpraxis ist eine Ersatzmassnahme, um die Auswirkungen der Grenzwertüberschreitungen zu ­mildern. Sie dient der Erhöhung des Wohnkomforts, entbindet aber nicht davon, auch die Voraussetzung der «nicht erheblichen Überschreitung» erfüllen zu müssen.

Das Bundesgericht zog die Grenze zwischen «erheblichen» und «nicht erheblichen» Überschreitungen der IGW recht grosszügig: Innerhalb der Empfindlichkeitsstufe ES II liegt die Grenze bei 4 dB(A).(7) In einem neueren Entscheid waren die Immissionsgrenzwerte tagsüber an einem der vier ­Fenster mit IGW-Überschreitung um 4 dB(A) überschritten. Das Bundesgericht bezeichnete diese Überschreitung als eindeutig wahrnehmbar.(8) Die Baudirektion des Kantons Zürich hat sich der erwähnten «Empfehlungen für den Baubewilligungsprozess – Vollzug von Art. 31 LSV» (siehe Anhang) diesem Wert angeschlossen. Es gibt jedoch auch vom Bundesgericht Entscheide, welche aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls Ausnahmebewilligungen trotz höherer IGW-Überschreitungen schützten.(9)

Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich hatte in einem Fall die Überschreitung der IGW bei 99 Fenstern um bis zu 5 dB(A) als «immens» bezeichnet.(10) In gleicher Weise hat das Baurekursgericht des Kantons Zürich bei einem Bauvorhaben entschieden, bei welchem in 103 von 134 Wohnungen die IGW überschritten worden waren, und zwar mit bis zu 8.2 dB(A) in der Nacht und bis zu 4 dB(A) tagsüber.(11)

5. Zusammenfassendes Fazit

Lärmschutz ist wichtig. Der Wohnungsbau in baulich verdichteten Gebieten ist trotz den Lärmschutzvorschriften zulässig, aber der Neubau ist aufwändiger. Wird dem Lärmschutz nicht schon bei Projektbeginn Aufmerksamkeit geschenkt, ist die Gefahr gross, dass das Baugesuch aus lärmschutzrechtlichen Gründen abgewiesen werden muss. Lärmoptimierte Gebäude mit komfortablen Wohnungen lassen sich besser vermieten und verkaufen. Wer lärmoptimiert baut, ist nicht nur rechtlich, sondern auch wirtschaftlich im Vorteil.

VOSER RECHTSANWÄLTE

Dr. Peter Heer

MLaw Myriam Schuler

  1. BGE 142 II 110 f. E. 4.6; Urteile des Bundesgerichts 1C_139/2015, 1C_140/2015 und 1C_141/2015 vom 16. März 2016.
  2. Siehe beispielsweise die Plattform «Bauen im Lärm» des Cercle Bruit Schweiz.
  3. Urteil des Bundesgerichts 1C_141/2015 vom 16. März 2016, E. 4.6, mit Hinweis auf Urteil des Bundesgerichts 1C_704/2013 vom 17. September 2014, E. 6.4, in: URP 2014 S. 643; RDAF 2015 I S. 378.
  4. Entscheid des Bundesgerichts 1C_106/2018 vom 2. April 2019, E. 4.7.; vgl. Christoph Jäger, Bauen im lärmbelasteten Gebiet, Interessenabwägung nach Art. 31 Abs. 2 LSV, in: Raum & Umwelt 2009 Nr. 4, S. 9.
  5. Urteil des Bundesgerichts 1C_106/2018 vom 2. April 2019, E. 4.2.
  6. Vgl. BGE 142 II 110 f. E. 4.6; siehe auch Urteile des Bundesgerichts 1C_313/2015 und 1C_317/2015 vom 10. August 2016, E. 3.5, publ. in: ZBl. 118/2017 S. 50; Urteil des Bundesgerichts 1C_429/2016 vom 16. August 2017, E. 5.1, publ. in: URP 2018 S. 330.
  7. Urteil des Bundesgerichts 1C_106/2018 vom 2. April 2019, E. 4.7; Urteil des Bundesgerichts 1C_704/2013 und 1C_742/2013 vom 17. September 2014, E. 6.4.2.
  8. Urteil des Bundesgerichts 1C_106/2018 vom 2. April 2019, E. 4.7, mit Hinweis auf Robert Wolf, USG Kommentar, 2. Aufl., Vorbemerkungen N 9 zu Art. 19–25; ausserdem verwies das Bundesgericht auf die Haltung des BAFU (E. 4.7).
  9. BGE 145 II 189; Urteil des Bundesgerichts 1C_704/2013, 1C_742/2013 vom 17. September 2014, E. 6.4.5; Urteil des Bundesgerichts 1C_196/2008 vom 13. Januar 2009, E. 2.6.
  10. Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 27. Februar 2020, VB.2019.00394, E. 5.3.3.
  11. Urteil des Baurekursgerichts des Kantons Zürich 0066/2020 und 0067/2020 vom 5. Juni 2020, E. 6, und insbesondere E. 6.3 mit Hinweis auf Urteil des Verwaltungsgerichts VB.2018.00027 vom 18. Dezember 2019, E. 4.3.

Die Autorinnen und Autoren dieses Beitrags:

Dr. Peter
Heer
Rechtsanwalt, Fachanwalt SAV Bau- und Immobilienrecht
+41 56 203 10 39
p.heer@voser.ch
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