LEXPRESS Das rechtliche Gehör im Baubewilligungsverfahren

1. Einleitung

Das Baubewilligungsverfahren spielt sich ab zwischen einer Baugesuchstellerin, der Baubewilligungsbehörde (Stadtrat bzw. Gemeinderat) und allfälligen Einwendern. Die Baugesuchstellerin wie die Einwender (hier auch als «Parteien» bezeichnet) haben Anspruch auf ein faires Verfahren (Art. 5 BV und Art. 9 BV sowie § 22 Abs. 1 KV). Dazu gehört auch der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV, § 22 Abs. 1 KV, §§ 21, 22 und 26 VRPG). Wie im Folgenden gezeigt wird, ist der Gehörsanspruch sehr vielfältig und weist mehrere Teilgehalte auf. Obwohl die Grundregeln im Allgemeinen bei den Baubewilligungsbehörden bekannt sind, passieren immer wieder Fehler. Im vorliegenden LEXpress sollen einige zentrale Aspekte des rechtlichen Gehörs im Baubewilligungsverfahren dargestellt werden.

2. Das rechtliche Gehör im Allgemeinen

Der Hintergrund des Gehörsanspruchs ist banal: Es geht um den Respekt gegenüber den Entscheidbetroffenen (u.a. Äusserungsrecht, persönliche Teilnahme am Verfahren, Mitwirkung bei der Beweiserhebung), um die Sachaufklärung (u.a. Beweisanträge von Betroffenen) sowie um die Transparenz in den Entscheidabläufen (u.a. Akteneinsichtsrecht, Beweiserhebung, Unbefangenheit) und des Entscheids selber (u.a. Begründungspflicht). Die rechtstreue Umsetzung des Gehörsgrundsatzes trägt wesentlich zur Akzeptanz behördlicher Entscheide bei.

2.1 Zweck des rechtlichen Gehörs

Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist im Verwaltungsverfahren ein zentrales Mitwirkungsrecht der Verfahrensbeteiligten.(1) Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung.(2) Indem alle Betroffenen ihre Wahrnehmung des Sachverhalts in das Verfahren einbringen können, rundet sich für die Entscheidbehörde dieser Sachverhalt ab und vervollständigt sich zu einem zuverlässigeren Bild. Damit verkleinert sich die Gefahr, dass die Behörde in ihrem Entscheid von einem falschen Sachverhalt ausgeht. Anderseits stellt das rechtliche Gehör ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheids dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift.(3) Die Behörde soll die von der Baubewilligung Betroffenen ernst nehmen und sie als Partner, nicht als Gegner oder Störenfriede betrachten.

2.2 Zeitpunkt der Gehörsgewährung

Der Zweck der Gehörsgewährung kann nur verwirklicht werden, wenn das rechtliche Gehör gewährt wird, bevor die Behörde entscheidet. Das hält § 21 Abs. 1 VRPG treffend fest: «Die Behörde hört die Parteien an, bevor sie entscheidet». Das ist zwingend, aber nicht so selbstverständlich, wie man meint. Der Kanton Zürich kennt im Gegensatz zum Kanton Aargau kein Einwendungs- und kein Einspracheverfahren. Dort fällt die Baubewilligungsbehörde den Bauentscheid, ohne betroffenen Dritten («Nachbarn») das rechtliche Gehör gewährt zu haben (§§ 315 f. und §§ 318 ff. PBG).

2.3 Rechtliches Gehör und Rechtsanwendung von Amtes wegen

Das rechtliche Gehör dient der Klärung des Sachverhalts, über den die Behörde entscheiden muss. Der Gehörsanspruch verleiht hingegen grundsätzlich keinen Anspruch darauf, sich zur rechtlichen Beurteilung des Sachverhalts zu äussern. Die Rechtsanwendung hat von Amtes wegen zu erfolgen. Die Parteien haben nur dann ein Äusserungsrecht, wenn sich die Behörde auf Sachumstände oder Rechtsnormen stützen will, die bisher nicht einbezogen oder angesprochen worden sind und mit deren Heranziehen sie nicht rechnen mussten.(4)

Trotzdem: In der Regel macht es Sinn, die Einwender über die anwendbaren Bestimmungen und die Verwaltungspraxis zu orientieren und ihnen Gelegenheit zu geben, sich dazu zu äussern. Das Bundesgericht verlangt zu Recht, dass die Parteien über die Rechtsauffassung der Behörde orientiert werden und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Behörde eine unbestimmt gehaltene Norm anzuwenden oder in Ausübung eines besonders grossen Ermessensspielraums zu entscheiden hat oder wenn der konkrete Entscheid für die Betroffenen von grosser Tragweite ist.(5)

2.4 Schranken des rechtlichen Gehörs

Wie jedes Grundrecht ist auch der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht schrankenlos. Einschränkungen sind vor allem dann zulässig, wenn die Gefahr besteht, dass prozessuale Massnahmen vereitelt werden, eine besondere zeitliche Dringlichkeit besteht oder wenn überwiegende öffentliche oder private Interessen geschützt werden müssen. Im konkreten Fall ist deshalb immer eine Interessenabwägung notwendig, sofern mehrere relevante Interessen betroffen sind. Die Anhörung ist aber umgehend nachzuholen, sobald es die Umstände erlauben, also beispielsweise die Gefahr beseitigt ist. Zudem ist – nach erfolgter Anhörung – ein neuer Entscheid zu erlassen (§ 21 Abs. 2 VRPG).

3. Rechtliche Regelung des rechtlichen Gehörs im Baubewilligungsverfahren

Das Baubewilligungsverfahren beginnt mit der Einreichung des Baugesuchs (§ 60 Abs. 1 BauG). Damit Dritte vom Baugesuch erfahren, hat der Gemeinderat das Baugesuch zu veröffentlichen und während 30 Tagen öffentlich aufzulegen (§ 60 Abs. 2 BauG und § 54 Abs. 1 und Abs. 3 BauV). Zudem hat die Baugesuchstellerin die Bauprofile vor Veröffentlichung des Baugesuchs aufzustellen (§ 60 Abs. 3 BauG und § 53 BauV). Nachbareigentümer zur Bauparzelle, die nicht in der Gemeinde wohnen oder ihren Sitz nicht in der Gemeinde haben, wird die öffentliche Auflage des Baugesuchs durch den Gemeinderat schriftlich angezeigt (§ 54 Abs. 2 BauV). Dadurch sind die Grundlagen geschaffen, damit Drittbetroffene sich äussern können.

Die Baubewilligungsbehörde hat zu prüfen, ob das Baugesuch vollständig ist (§ 54 Abs. 1 i.V.m. § 51 Abs. 1–4 BauV). Das Baugesuch muss vollständig sind, damit Interessierte alle für die Beurteilung des Baugesuchs massgebenden Akten einsehen und Legitimierte mit ihren Einwendungen umfassend zum Baugesuch Stellung nehmen können. Werden Akten nach der öffentlichen Auflage eingereicht, ist zu prüfen, ob die öffentliche Auflage zu wiederholen ist bzw. wie das rechtliche Gehör zu diesen zusätzlichen Akten nachträglich gewährt wird.

4. Akteneinsichtsrecht

Ein wesentlicher Bestandteil des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist das Akteneinsichtsrecht. Die Parteien haben das Recht, im Baubewilligungsverfahren jederzeit in die Verfahrensakten Einsicht zu nehmen (§ 22 Abs. 1 VRPG).

4.1 Aktenerstellungspflicht

Das Recht auf Akteneinsicht setzt voraus, dass überhaupt Akten vorhanden sind, die von den Parteien eingesehen werden können. Es ist die Pflicht der Baubewilligungsbehörde (bzw. ihrer Verwaltung), Akten zu erstellen. Diese Aktenerstellungspflicht bzw. Aktenführungspflicht wird als Gegenstück zum Recht auf Akteneinsicht verstanden.(6) Sämtliche Verfahrenselemente wie Sachverhalt, Beweiserhebungen und Protokolle sind durch Aktenführung ausreichend zu dokumentieren.(7) Die Baubewilligungsbehörde hat sicherzustellen, dass die Baubewilligungsakten vollständig sind und entsprechend dem Gang des Baubewilligungsverfahrens lückenlos nachgeführt werden. Zu diesen Akten gehören neben dem Baugesuch (§ 51 Abs. 1 BauV) insbesondere die Einwendungen, weitere Rechtsschriften (z.B. Stellungnahmen zu den Einwendungen, Replik und Duplik), die Korrespondenz zwischen der Baubewilligungsbehörde und den Parteien, Protokolle von Beweiserhebungen (z.B. von Augenscheinen), Protokolle von Einigungsverhandlungen, Grundbuchauszüge, Dienstbarkeitsverträge (z.B. betreffend Näherbaurechte), Gutachten und Modelle.

4.2 Umfang der Akteneinsicht

Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts bezieht sich das Akteneinsichtsrecht auf sämtliche Akten, die verfahrensbezogen und geeignet sind, Grundlage des Entscheids zu bilden.(8) Das gilt auch für elektronische Aufzeichnungen.(9) Kein Akteneinsichtsrecht gibt es bloss für verwaltungsinterne Akten; das sind Akten, die nicht geeignet sind, Grundlage des Entscheides über das Baugesuch und die Einwendungen zu bilden. Dazu gehören z.B. Entwürfe, Anträge, Notizen, Mitberichte, Hilfsbelege usw. (vgl. auch § 22 Abs. 1 VRPG). Allerdings ist die Eingrenzung, was verwaltungsinterne Akten sind, oft schwierig. Entscheidend ist die Bedeutung des Aktenstücks für den entscheidwesentlichen Sachverhalt. Verwaltungsintern erstellte Berichte, Gutachten und Echtheitsprüfungen zu streitigen Sachverhaltsfragen sind keine verwaltungsinternen Akten.(10) Es ist letztlich unerheblich, ob das Aktenstück den Ausgang des Verfahrens tatsächlich beeinflusst, es genügt, dass es überhaupt geeignet ist, die Entscheidfindung zu beeinflussen.(11) Dabei muss es dem Betroffenen selber überlassen sein, die Relevanz der Akten zu beurteilen.(12) Deshalb sind im Zweifelsfall Akten als nicht-verwaltungsintern zu qualifizieren. Nicht-verwaltungsinterne Akten sind nur dann nicht offenzulegen, wenn überwiegende öffentliche oder private Interessen (z.B. solche des Datenschutzes) dagegensprechen (§ 22 Abs. 2 VRPG).

4.3 Herausgabe von Akten

Ein Anspruch auf Herausgabe der Akten besteht nicht, grundsätzlich auch nicht für die Rechtsanwälte.(13) Bei anwaltlich vertretenen Parteien werden die Akten in der Regel dem Rechtsvertreter zum Studium ausgehändigt.(14)

4.4 Einsichtsrecht in nachgereichte Unterlagen und Informationspflicht der Behörden

Die Wahrnehmung des Akteneinsichtsrechts setzt voraus, dass die Parteien Kenntnis von den Akten haben, die als Grundlage für den Entscheid dienen. Das gilt insbesondere für nachgereichte Akten, was gelegentlich vergessen geht. Die Baubewilligungsbehörde muss deshalb die Parteien über das Vorhandensein dieser Akten von Amtes wegen informieren. Es obliegt den Parteien, Einsicht in diese Akten zu nehmen.(15) Einfacher ist es, nachgereichte Unterlagen den Parteien zur Stellungnahme innert einer kurzen Frist zuzustellen.

Soweit die Parteien Einsicht in eine Zustimmungserklärung des Kantons verlangen (siehe § 63 BauG), besteht kein Anspruch auf Einsichtnahme vor der Eröffnung des Entscheids der Baubewilligungsbehörde. Diese ist von Gesetzes wegen gleichzeitig und gemeinsam mit der Baubewilligung zu eröffnen (siehe § 64 Abs. 5 BauG).

4.5 Ort der Akteneinsicht

Der Ort der Akteneinsicht bestimmt sich im nichtstreitigen Verwaltungsverfahren und in der Verwaltungsrechtspflege nach dem Sitz der aktenführenden Behörde.(16) Die öffentliche Auflage der Akten erfolgt am Sitz der Gemeindeverwaltung, in der Regel in den Räumlichkeiten der Bauverwaltung.

4.6 Anspruch auf Kopien und Fotografieren

Die Interessierten haben einen Anspruch darauf, während der öffentlichen Auflage des Baugesuchs auf einem Kopiergerät der Verwaltung Fotokopien der Baugesuchsunterlagen gegen Gebühren selbst herzustellen, die Akten zu fotografieren (was sich besonders bei den grossformatigen Plänen aufdrängt) sowie Abschriften und Notizen zu machen. Das Argument, die Akten unterstünden dem Urheberrecht des Architekten und dürften daher nicht kopiert werden, ist nicht zulässig: Erstens kann kaum je bewiesen werden, dass die Kopien missbräuchlich verwendet werden sollen, und zweitens eignen sich die Baugesuchsunterlagen kaum, um das Projekt z.B. selber zu realisieren.

4.7 Elektronische Aktenzustellung

Der Kanton entwickelt im Rahmen des kantonalen «E-Government Projektportfolios» für die Abwicklung von Baugesuchen eine (so der Wortlaut) «möglichst medienbruchfreie Lösung», die 2019 eingeführt werden soll. Insbesondere sollen die Baugesuche digital eingereicht werden können. Allerdings erlaubt diese Lösung nur die digitale Kommunikation zwischen Baugesuchstellern, der Gemeinde und – soweit involviert – dem Kanton (siehe § 63 BauG), nicht jedoch mit den Einwendern. Warum diese Partei ausgeschlossen werden soll, ist für Aussenstehende nicht nachvollziehbar und wird auf der Webseite des Kantons auch nicht erklärt. Es würde sich anbieten, die Baugesuchsakten auch den Drittinteressierten, zumindest aber den zur Einwendung legitimierten Nachbarn digital zur Verfügung zu stellen. Dazu eignet sich insbesondere der Fernzugriff via Web, womit die Parteien auf die Daten zugreifen und diese auch herunterladen können. Es dürfte unbestritten sein, dass das Kopieren von grossformatigen Plänen auf A3-Kopiergeräten und das anschliessende Zusammensetzen mühsam und nicht mehr zeitgemäss ist.

Gelegentlich kommt es vor, dass eine Baubewilligungsbehörde einer Partei Aktenstücke auf elektronischem Weg zur Einsichtnahme zustellt. Das ist gemäss § 7 VRPG und Verordnung über die elektronische Übermittlung in Verfahren vor Verwaltungs- und Verwaltungsjustizbehörden (SAR 271.215) zulässig.

4.8 Veröffentlichung von Akten auf der Webseite?

Es ist naheliegend, dass insbesondere für interessierte Nachbarn der Zugriff auf das Baugesuch (samt Plänen und weiteren Unterlagen) via Internet einige Vorteile brächte. So könnte die Akteneinsicht unabhängig vom Wochentag und unabhängig von den Öffnungszeiten der Bauverwaltung und ortsunabhängig erfolgen. Letztlich könnte wohl auch die Frist von 30 Tagen, welche heute für die öffentliche Auflage gilt, verkürzt werden. Indes ist fraglich, ob die Gemeinden zum heutigen Zeitpunkt Baugesuche (mit allen Unterlagen) auf ihrer Webseite veröffentlichen dürfen, da sie hierfür keine gesetzliche Grundlage haben. Insbesondere müsste gewährleistet sein, dass nach Ablauf der Einsichtsdauer Dritte, die nicht zulässigerweise Einwendungen erhoben haben, keinen Zugriff mehr auf die Baugesuchsakten haben.

5. Schriftenwechsel

Allfällige Einwendungen sind der Baugesuchstellerin zur freiwilligen schriftlichen Vernehmlassung zuzustellen. Die Baubewilligungsbehörde kann darauf verzichten, wenn die Einwendungen offensichtlich unzulässig (beispielsweise mangels Legitimation des Einwenders) oder offensichtlich unbegründet sind. Die Baugesuchstellerin kann auf eine schriftliche Stellungnahme verzichten, eventuell an der Einigungsverhandlung mündlich zur Einwendung Stellung nehmen.

Die Baubewilligungsbehörde ist nicht verpflichtet, vom Einwender eine schriftliche Stellungnahme zur Vernehmlassung (sogenannte Replik) einzufordern. Sofern sie die Möglichkeit zur Replik gewährt, muss die Gesuchstellerin die Möglichkeit zur Duplik haben. Ein solcher zweiter Schriftenwechsel (Replik und Duplik) sollte aber die Ausnahme sein. Gerade wenn eine Einigungsverhandlung vorgesehen ist, ist ein zweiter Schriftenwechsel kaum je gewinnbringend.

Im Übrigen muss die Bewilligungsbehörde den Parteien über alle Eingaben in Kenntnis setzen, auch wenn es sich um unaufgeforderte Eingaben handelt. Es ist dann an den Parteien selbst zu entscheiden, ob sie die Eingabe als erheblich erachtet und sich hierzu äussern will.

Die Baubewilligungsbehörde holt zu Einwendungen, die kantonale oder eidgenössische Bewilligungen oder Zustimmungen berühren, vor ihrem Entscheid die Stellungnahme der Abteilung für Baubewilligungen ein (§ 56 Abs. 1 BauV).

6. Einigungsverhandlung (auch Einsprache- oder Einwendungsverhandlung)

Im Kanton Aargau führen die Baubewilligungsbehörden in der Regel eine Einigungs- oder Einwendungsverhandlung (nachfolgend Einigungsverhandlung) durch. Das ist sehr nützlich: Mit kaum einem anderen Mittel wird das rechtliche Gehör derart gut gewährt, Rechtsfrieden hergestellt und die Belastung der Entscheid- und Rechtsmittelinstanzen sowie der betroffenen Parteien durch Rechtsmittelverfahren vermieden, wie mit der Einigungsverhandlung. Die Einigungsverhandlung ist oft auch das richtige Mittel, um die Legitimation eines Einwenders zu prüfen (Sachverhalt) und dem Einwender anhand der Rechtslage zu erklären, dass er nicht zur Einwendung berechtigt ist. Es ist erfreulich, wie gut dieses Instrument im Kanton Aargau genutzt wird und welch guten, oft unerwarteten Wirkungen Einwendungsverhandlungen haben.

6.1 Zweck der Einigungsverhandlung

Die Einigungsverhandlung dient der Sachverhaltsabklärung und der behördlichen Rechtsfindung sowie der Schlichtung der divergierenden Auffassungen der Betroffenen zum Bauvorhaben. Die Möglichkeit eines mündlichen Austausches wird von der Baugesuchstellerin und den Einwendern geschätzt. Oft fördert die Verhandlung das gegenseitige Verständnis und erleichtert damit die Verständigung auf eine sachgerechte Lösung. Eine mündliche Einigungsverhandlung ist somit insbesondere angebracht, wenn eine Schlichtung oder der Rückzug der Einwendungen möglich erscheint oder wenn der Sachverhalt zu klären ist. Der Rückzug der Einwendung während oder als Folge einer Einigungsverhandlung stellt ein Gestaltungsrecht dar und bewirkt den Wegfall der Beschwerdelegitimation in einem späteren Verfahren (§ 4 Abs. 2 BauG).

6.2 Keine Rechtspflicht zur Durchführung einer Einigungsverhandlung

Trotz seiner grossen Bedeutung in der Praxis wird dieses Institut im Baugesetz nicht umschrieben (vgl. aber § 24 Abs. 2 BauG bezüglich des Planungsverfahrens). Es gibt im Baubewilligungsverfahren keine Rechtspflicht zur Durchführung einer Einigungsverhandlung. Das rechtliche Gehör des Einwenders bedingt keine Verhandlung. Er muss seine Kritik schriftlich in einer Einwendung zuhanden der Baubewilligungsbehörde äussern. Die Baugesuchstellerin muss sich zur Einwendung äussern können. Das kann sie ebenfalls schriftlich tun, denn auch sie hat kein Recht auf eine persönliche, mündliche Anhörung zur Einwendung. Wird eine mündliche Einigungsverhandlung durchgeführt, gelten die Bestimmungen des Verwaltungsrechtspflegegesetzes und damit insbesondere die Regeln über die Beweiserhebung (§ 24 VRPG).

Die Abwesenheit (sog. Säumnis) des Einwenders an der Einigungsverhandlung hat keine rechtlichen Auswirkungen. Der Einwender ist weiterhin befugt, an seinen Einwendungen festzuhalten und zur Beschwerde gegen die Baubewilligung legitimiert.

6.3 Teilnahme von kantonalen Behörden

Betrifft eine Einwendung kantonale Belange (siehe § 63 BauG), ist zu prüfen, ob die zuständige kantonale Behörde zur Einigungsverhandlung zugezogen werden soll. Wichtig ist, dass sich die kantonale Behörde mit den Argumenten in der Einwendung auseinandersetzt. Das kann sich auf eine Behandlung in der kantonalen Stellungnahme (Zustimmung oder Abweisung) beschränken, kann aber auch durch die Auseinandersetzung in der Einigungsverhandlung vertieft werden.

6.4 Protokollführungsflicht

Bei einer Einigungsverhandlung gilt eine Protokollierungspflicht über alle relevanten Feststellungen. Danach sind wie bei einem Augenschein die wesentlichen Ergebnisse in einem Protokoll festzuhalten.(17) Stichwortartige handschriftliche Aufzeichnungen, die einzig für die verfassende Person lesbar und verständlich sind, genügen den Anforderungen eines Protokolls nicht. Das Protokoll einer Einigungsverhandlung muss den Parteien auf Verlangen zur Einsicht offenstehen, und zwar jederzeit. Unseres Erachtens haben sie Anspruch darauf zu erfahren, wenn das Protokoll erstellt und in den Akten ist. Selbstverständlich wird dieser Anspruch am besten durch eine Zustellung des Protokolls befriedigt. Da die Einwendungsverhandlung unter anderem der Sachverhaltsabklärung dient, müssen die Parteien Gelegenheit haben, sich im Protokoll zu äussern. Das bedeutet aber nicht, dass ihnen förmlich eine Äusserungsfrist gesetzt werden muss. Der Verzicht auf die Protokollierung verletzt das rechtliche Gehör.(18)

Offen ist, ob die Parteien frei sind, auf die Protokollierung der Einigungsverhandlung zu verzichten, denn das Protokoll dient nicht nur den Parteien, sondern auch der Baubewilligungsbehörde bzw. dem korrekten, auch auf den Erkenntnissen der Einwendungsverhandlung basierenden Entscheid über das Baugesuch und die Einwendungen: Da kaum je der gesamte Gemeinderat an der Einigungsverhandlung teilnimmt, müssen die wichtigsten Erkenntnisse dieser Verhandlung mittels des Protokolls der Gesamtbehörde zur Kenntnis gebracht werden. Jedenfalls müssten die Parteien durch die Baubewilligungsbehörde auf ihren Anspruch, ein vollständiges Protokoll zu erhalten, aufmerksam gemacht werden, bevor sie auf ein Protokoll verzichten.

6.5 Tonband- und Videoaufnahmen

Die Baubewilligungsbehörde hat kein Recht, gegen den Willen der Parteien elektronische Aufzeichnungen zu machen. Weder das Baugesetz noch das Verwaltungsrechtspflegegesetz oder das Gemeindegesetz enthalten hierfür eine gesetzliche Grundlage. Für die Behörde gilt folglich dasselbe wie für die Parteien: Sie dürfen nur mit Einwilligung aller Teilnehmer der Einigungsverhandlung Bild- und Tonbandaufnahmen machen (Art. 179ter StGB). Generell ist aber zu beachten: Ton- und Videoaufnahmen können die Suche nach einvernehmlichen Lösungen behindern und damit einer der Zwecke der Einigungsverhandlung vereiteln. Deshalb sollte auf Bild- und Tonbandaufnahmen verzichtet werden.

7. Anspruch auf Entscheid innert angemessener Frist

Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör fliesst auch der Anspruch der Parteien auf einen Entscheid innert angemessener Frist (siehe ausdrücklich Art. 29 Abs. 1 BV). Das Rechtsverzögerungsverbot verlangt von der Baubewilligungsbehörde eine straffe Führung des Verfahrens. Sie hat sich beispielsweise auf die Beweiserhebungen zu beschränken, die für ihren Entscheid nötig sind. Auch hat sie nur soweit einen Rechtsschriftenwechsel anzuordnen, als sie sich daraus Erkenntnisse für ihre Entscheidung verspricht. Dabei hat sie kurze Fristen zu setzen und unnötige Fristverlängerungen zu vermeiden (siehe § 28 VRPG).

8. Begründungspflicht

Die Baubewilligungsbehörde hat ihren Entscheid über das Baugesuch und die dagegen erhobenen Einwendungen schriftlich zu begründen (§ 26 Abs. 2 VRPG). Sie hat namentlich die in den Einwendungen vorgebrachten Argumente abzuhandeln. Entscheidrelevante Grundlagen hat die Behörde zu erwähnen. Sofern sich die Behörden ihr Wissen informell beschaffen oder aus der eigenen Erfahrung schöpfen, welche den Parteien nicht oder nur schwer zugänglich sind, müssen diese Wissensquellen den Parteien offengelegt werden und überprüfbar sein.

9. Zustellung und Publikation des Entscheids

Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs beinhaltet auch das Recht der Parteien auf Zustellung des Entscheids. Die Entscheide werden den Parteien direkt zugestellt. Wenn eine Partei aber einen Vertreter bestellt hat, ist der Entscheid diesem zuzustellen (§ 27 Abs. 1 VRPG). Sofern sich ein Entscheid an eine grosse oder unbestimmte Anzahl von Personen richtet, ist er zu veröffentlichen (§ 27 Abs. 3 VRPG).

10. Schlussbemerkung und Hinweise

Die Ausführungen in diesem LEXpress zum rechtlichen Gehör im Baubewilligungsverfahren gelten ebenso (sinngemäss) beispielsweise bei Projektänderungen (siehe § 52 BauV) oder Verfahren um nachträgliche Baubewilligungen bzw. Rückbau illegal erstellter Bauten.

VOSER RECHTSANWÄLTE

Dr. Peter Heer

Christian Munz

Inka Tschudin

Daniela Nay

Patric Howald

HÄFELIN ULRICH/MÜLLER GEORG/UHLMANN FELIX, Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Vollständig überarbeitete Auflage, Zürich/St. Gallen 2016, Rz 1001.

  1. BGE 135 II 286 E. 5.1.
  2. BGE 135 II 286 E. 5.1.
  3. BGE 124 I 49 E. 3c; MERKLI THOMAS/AESCHLIMANN ARTHUR/HERZOG RUTH, Kommentar zum bernischen Verwaltungsrechtspflegegesetz, 1997, Art. 21 N 8.
  4. BGE 124 I 49 E. 3c.
  5. HÄFELIN ULRICH/MÜLLER GEORG/UHLMANN FELIX, a.a.O., Rz 1001.
  6. AGVE 2001, S. 372; 2000, S. 344; je mit Hinweisen.
  7. BGE 132 V 387 E. 3.2.
  8. Vgl. BGE 130 II 473 E. 4.1 mit Hinweisen; vgl. auch GRIFFEL ALAIN, Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 3. Vollständig überarbeite Auflage, Zürich 2014, § 8 N 12 mit Hinweisen.
  9. Vgl. z.B. MERKLI/AESCHLIMANN/HERZOG, a.a.O., Art. 23 N 8.
  10. BGE 132 V 387 E. 3.2 mit Hinweisen.
  11. BGE 132 V 387 E. 3.2; AGVE 2003 S. 311 und S. 313; je mit Hinweisen).
  12. BGE 122 I 109 E. 3c; vgl. auch BGE 120 IV 242 zum Verwaltungsstrafverfahren.
  13. AGVE 2000 S. 279 ff., 283.
  14. MERKLI/AESCHLIMANN/HERZOG, a.a.O., Art. 21 N 3 und N 11.
  15. HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, a.a.O., Rz 1020.
  16. Vgl. bezüglich Fotodokumentation einer Behörde während und nach einem Augenschein BGer 1C_457/2015 E. 2.4 und E. 2.5.
  17. Urteil des Verwaltungsgerichts WBE.2013.260 vom 24. März 2014, E. 2, insbesondere E. 2.2.3. mit zahlreichen Hinweisen; siehe auch BGE 130 II 473 ff.

Die Autorinnen und Autoren dieses Beitrags:

Dr. Peter
Heer
Rechtsanwalt, Fachanwalt SAV Bau- und Immobilienrecht
+41 56 203 10 39
p.heer@voser.ch
MLaw Inka
Tschudin
Rechtsanwältin, CAS in Datenschutz
+41 56 203 15 43
i.tschudin@voser.ch
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