LEXPRESS Prüf- und Rügeobliegenheiten

«Lieber Besteller – leider sind Ihre Ansprüche verwirkt.» Von den Prüf- und Rügeobliegenheiten

1. Einleitung

Eine Generalunternehmerin erstellt für ein Industrieunternehmen ein neues Betriebsgebäude. Nach der Erwartung der Bestellerin leistet die Generalunternehmerin während fünf Jahren Gewährleistung dafür, dass das Gebäude die gemäss Vertrag zugesicherten Eigenschaften aufweist und auch sonst frei von Mängeln ist. Schliesslich hat die Bestellerin für ihr neues Betriebsgebäude auch den vereinbarten Preis an die Generalunternehmerin bezahlt. Tatsächlich ist die Generalunternehmerin aber nur zur Gewährleistung verpflichtet, wenn die Bestellerin gegenüber dieser ihre Prüf- und Rügeobliegenheiten wahrnimmt. Deren Vernachlässigung sanktioniert das Gesetz mit der unwiderlegbaren Vermutung der Genehmigung des Werkes durch die Bestellerin, womit die Mängelrechte unwiderruflich verwirken.

Sicher gibt es viele Bauunternehmer, welche bezüglich dieser Obliegenheiten ihrer Kunden mit Augenmass umgehen. Beruft sich ein Bauunternehmer jedoch berechtigterweise auf die Vernachlässigung dieser Obliegenheiten, sind die Auswirkungen für den betroffenen Besteller fatal. Entsprechend wichtig ist, dass Besteller ihre Obliegenheiten kennen. In unserer Praxis machen wir immer wieder die Erfahrung, dass die erforderlichen Kenntnisse sowohl bei geschäftlichen als auch bei privaten Bauherren lückenhaft sind. Nachfolgend soll das Bewusstsein über diese Obliegenheiten entsprechend gestärkt werden.(1)

2. Prüfobliegenheit des Bestellers

2.1 Nach Obligationenrecht

Das Obligationenrecht hält für den Werkvertrag fest, dass der Besteller nach der Ablieferung des Werkes dessen Beschaffenheit prüfen und den Unternehmer von allfälligen Mängeln in Kenntnis setzen muss (Art. 367 Abs. 1 OR). Geltend zu machen sind alle im Rahmen der Prüfung erkennbaren Mängel, da ansonsten die Gewährleistung für solche entfällt. Dies gilt selbst dann, wenn der Besteller die gesetzlich vorgesehene Prüfung und Anzeige unterlässt; denn diesfalls wird eine stillschweigende Genehmigung angenommen (Art. 370 Abs. 1 und 2 OR).

Erkennbare Mängel sind innerhalb der Prüffrist anzuzeigen, wobei das Gesetz die Frist selbst nicht definiert. Massgebend soll der «übliche Geschäftsgang» und die «Tunlichkeit» sein (vgl. Art. 367 Abs. 1 OR). Auszugehen ist von der Zeit, die ein ordentlicher Besteller benötigt, um die Prüfung sorgfältig durchzuführen. Dies kann nach Bundesgericht einige Tage oder bei komplexen Werken mehrere Monate dauern (Bundesgerichtsurteil 4A_534/2008, E. 7.3). Um Rechtssicherheit zu schaffen, empfiehlt es sich, entweder eine Prüffrist vertraglich zu vereinbaren oder die Prüfung gemeinsam durchzuführen.

Im Rahmen der Prüfung müssen alle erkennbaren Mängel angezeigt werden. Gerügt werden müssen demnach nicht nur die Mängel, die offen zu Tage treten. Vielmehr müssen alle Mängel angezeigt werden, die bei sorgfältiger Prüfung erkennbar sind.

2.2 Nach SIA-Norm 118

Die SIA-Norm 118 basiert auf dem Prinzip der gemeinsamen Prüfung, wobei das Werk auf Anzeige des Unternehmers hin innert Monatsfrist gemeinsam geprüft und über das Ergebnis ein gemeinsames Protokoll aufgenommen werden soll (Art. 158 SIA-Norm 118).

Nach dem Wortlaut der Norm müssen die Mängel, die bei der gemeinsamen Prüfung offensichtlich waren, angezeigt werden, ansonsten der Verzicht auf deren Geltendmachung angenommen wird (Art. 163 Abs. 2 SIA-Norm 118). Offensichtliche Mängel liegen klar zutage, so dass sie ohne Weiteres, d.h. gewissermassen auf den ersten Blick, erkennbar sind (Urteil des Handelsgerichts Zürich HG120094, E.5.2.3).

2.3 Vergleich unter Berücksichtigung der Rechtsprechung

Während also das Gesetz die Anzeige der bei sorgfältiger Prüfung erkennbaren Mängel verlangt, beschränkt sich die SIA-Norm 118 auf die Anzeige der offensichtlichen Mängel. Unerkannte Mängel, die bei der gemeinsamen Prüfung zwar nicht offensichtlich, aber bei sorgfältiger Prüfung doch erkennbar gewesen wären, müssen demnach nicht zwingend angezeigt werden. Es genügt, wenn diese innerhalb der Rügefrist geltend gemacht werden (vgl. dazu Ziffer 3.2.1 hiernach). Vom Wortlaut her will die SIA-Norm 118 demnach dem Besteller eine durchaus nachvollziehbare Erleichterung im Vergleich zum strengen Gesetz bieten: denn von der Idee her soll der Unternehmer für sein Bauwerk ja auch während fünf Jahren seit der Abnahme Gewährleistung bieten.

Dennoch hatte das Bundesgericht kein Einsehen mit einem Bauherrn, der eine Generalunternehmerin mittels eines Generalunternehmer-Werkvertrages mit dem Neubau eines Flugsicherungszentrums betraute. Die Generalunternehmerin baute nach Darstellung des Bauherrn im Rahmen der Sanitärinstallationen Rotguss-Fittings anstelle der vertraglich geschuldeten Chromstahl-Fittings ein. Bei der Abnahme seien gemäss Bauherrn nur ca. 12 von mehreren tausend Formstücken unterschiedlichster Art und Dimensionen sichtbar gewesen. Für das Bundesgericht war bei einer einheitlichen Materialwahl dennoch offensichtlich, dass auch die nicht sichtbaren Fittings in Rotguss ausgeführt sein mussten und dies entsprechend bei der Abnahme hätte bemängelt werden müssen, zumal auch die Materialwahl der Fittings im Vertrag (über den Neubau eines ganzen Flugsicherungszentrums) dem Bauherrn bei der Abnahme bekannt sein müsse. Da keine entsprechende Anzeige bei der Abnahme erfolgte, galt die Ausführung als genehmigt. Der Bauherr konnte keine Gewährleistung geltend machen (vgl. Bundesgerichtsurteil 4A_646/2016).

Das Bundesgericht handhabt die Prüfobliegenheit demnach auch im Anwendungsbereich der SIA-Norm 118 durchaus streng, obwohl diese Norm dem Besteller Erleichterung bieten will. Es fragt sich deshalb, ob der Besteller im Anwendungsbereich der SIA-Norm 118 besser fährt, wenn er nach Anzeige des Unternehmers betreffend der Vollendung des Werkes innert Monatsfrist keine gemeinsame Abnahme mit diesem durchführt. Zwar gilt diesfalls das Werk mit Ablauf dieser Frist dennoch als abgenommen (Art. 164 Abs. 1 SIA-Norm 118). Jedoch greift dann aber auch die Genehmigungsfiktion von Art. 163 Abs. 2 SIA-Norm 118 nicht. Nach Art. 173 und 174 SIA-Norm 118 kann der Besteller diesfalls in Abweichung vom Gesetz sämtliche Mängel bis zum Ablauf der Garantiefrist wirksam rügen, also auch solche, welche der Besteller oder dessen Bauleitung vor der Abnahme erkannt hat oder hätte erkennen können, wenn das Werk gemeinsam geprüft worden wäre.

2.4 Vornahme der Prüfung und Dokumentation

Zu prüfen ist, ob das Werk vertragsgemäss beschaffen ist. Über die Art, Umfang und Methode der Prüfung spricht sich das Obligationenrecht nicht aus. Jedoch muss die Prüfung durch den Besteller unter Berücksichtigung der Natur des Werkes und einer allfälligen Übung sorgfältig erfolgen. Dies kann Mess- und Belastungsproben oder auch eine Ingebrauchnahme des Werkers erfordern.

Im Vergleich zum Gesetz basiert die SIA-Norm 118 auf dem Prinzip der gemeinsamen Prüfung. Der Unternehmer beteiligt sich demnach an der Prüfung, muss jedoch nicht mitprüfen. Der Unternehmer hat die für eine ordnungsgemässe Prüfung erforderlichen Auskünfte zu geben. Überdies hat er auf Anordnung hin Belastungsproben, Messungen oder andere Prüfungen am Bauwerk durchzuführen (Art. 158 Abs. 2 SIA-Norm 118). Die Funktionstauglichkeit von Einrichtungen elektrischer und mechanischer Art wie Heizungen, Lüftungen oder Aufzüge wird durch Inbetriebnahme nachgewiesen. Die Ergebnisse der Prüfung werden protokolliert (Art. 139 SIA-Norm 118). Im Werkvertrag können die Parteien beliebige Prüfungen vereinbaren, deren Kosten in den festen Preisen einzurechnen sind. Darüberhinausgehende Prüfungen, welche gegenüber dem Unternehmer angeordnet werden können, sind durch den Bauherrn dem Unternehmer zu vergüten.

Aus dem Eigentumsschutz leiten sich Warn- und Instruktionspflichten ab, wenn das Werk bei falschem Betrieb oder schlechter Wartung Schaden nehmen könnte. Für die Gebäudeinstallationen wie Heizung, Lüftung und Klimaanlagen müssen deshalb vom Unternehmer oder Lieferanten Gebrauchs- und Wartungsanleitungen zur Verfügung gestellt werden. Im Anwendungsbereich der SIA-Ordnungen obliegt die Dokumentation über das Bauwerk der Bauleitung. Diese muss die nachgeführten Pläne und Schemas, die Gebrauchs-, Wartungs- und andere Anweisungen von den Unternehmern und Lieferanten für den Bauherrn einholen (vgl. insbesondere Art. 4.53 SIA-Ordnung 102).

Die Fälligkeit des Werklohnes oder des Rückbehalts nach SIA-Norm 118 ist nicht an die Übergabe einer bestimmten Dokumentation gebunden, doch können die Parteien dies vereinbaren.

3. Rügeobliegenheit des Bestellers

3.1 Nach Gesetz und Rechtsprechung

Die Prüfung des Werkes auf Mängel ist das eine – die Rüge der entsprechenden Mängel das andere. Die beiden Obliegen-heiten sind voneinander zu unterscheiden. Es ist nämlich am Besteller, nicht nur allfällige Mängel festzustellen, sondern diese dem Unternehmer auch anzuzeigen, also zu rügen.(2)

Gemäss Obligationenrecht sind Mängel sofort nach deren Entdeckung dem Unternehmer anzuzeigen (Art. 370 Abs. 3 OR). Das Gesetz macht keine weiteren Angaben dazu, was es unter «sofort» versteht. Das Bundesgericht erachtet nach erfolgter Prüfung eine Rügefrist von sieben Tagen grundsätzlich als angemessen (Bundesgerichtsurteil 4C.82/2004 vom 3. Mai 2004, E. 2.3). Das Bundesgericht hielt im entsprechenden Entscheid fest, dass bei der Beurteilung, ob eine Mängelrüge rechtzeitig erfolgt ist, auf die konkreten Umstände des Einzelfalles abgestellt werden muss. Insbesondere – aber nicht nur – in Fällen, wo ein Zuwarten der Rüge zu grösserem Schaden führen kann, ist die Rügefrist sehr kurz zu bemessen. Besteht ein Werkvertrag nach Obligationenrecht, ohne Vereinbarung der SIA-Norm 118, sind Mängel somit innert sieben Tagen nach Entdeckung zu rügen. Unter nachfolgender Ziffer 3.4 finden sich konkrete Hinweise zum Inhalt einer Mängelrüge.

3.2 Nach SIA-Norm 118

3.2.1 Rügefrist

Die SIA-Norm 118 beinhaltet nicht nur hinsichtlich Prüf-, sondern auch hinsichtlich Rügeobliegenheiten Erleichterungen gegenüber dem Gesetz. Hier besteht eine Rügefrist von zwei Jahren (Art. 172 Abs. 1 SIA-Norm 118). Diese Frist läuft ab dem Tag der Abnahme des Werkes (Art. 172 Abs. 2 SIA-Norm 118). Somit dürfen offene, also bei der Abnahme bereits erkennbare Mängel während zwei Jahren jederzeit gerügt werden (Art. 173 Abs. 1 SIA-Norm 118). Ausnahme hiervon bilden offensichtliche Mängel (vgl. Ziffer 2.3 hiervor). Diese müssen bei der Abnahme gerügt werden, am besten mittels Aufnahme im Prüfungsprotokoll.

Vor Ablauf der zweijährigen Rügefrist findet auf Verlangen einer Vertragspartei eine Schlussprüfung statt. Anlässlich -dieser Schlussprüfung wird der Zustand des Werks zur Beweissicherung gemeinsam festgestellt. Die Beteiligten erstellen hierzu ein Protokoll (Art. 177 SIA-Norm 118).

Nach Ablauf der Rügefrist von zwei Jahren darf der Besteller Mängel, die er vor Ablauf der Frist entdeckt hat, nicht mehr rügen. Die Rechte aus bereits gerügten Mängeln hingegen bleiben – bis zum Ablauf der Verjährungsfrist (vgl. Ziffer 3.2.2 hiernach) – bestehen (Art. 178 Abs. 1 SIA-Norm 118).

3.2.2 Verdeckte Mängel

Mängel, die nach der Rügefrist von zwei Jahren zutage treten (bzw. erst dann entdeckt werden), werden als verdeckte Mängel bezeichnet (Art. 179 Abs. 1 SIA-Norm 118). Auch für solche Mängel haftet der Unternehmer gemäss SIA-Norm 118. Allerdings hat der Besteller verdeckte Mängel sofort nach deren Entdeckung zu rügen (Art. 179 Abs. 2 SIA-Norm 118). Die Rüge hat somit wiederum innert sieben Tagen nach Entdeckung des Mangels zu erfolgen. Für verdeckte Mängel, die bereits bei der gemeinsamen Abnahme des Werks hätten erkannt werden können und während der zweijährigen Rügefrist nicht geltend gemacht werden, haftet der Unternehmer nicht (Art. 179 Abs. 3 SIA-Norm 118).

Für alle Mängelrügen – sei es nach Obligationenrecht oder nach SIA-Norm 118 – ist sodann die Verjährung zu beachten. Mängelrechte können auch dann verjähren, wenn die Mängel rechtzeitig gerügt worden sind. Die Verjährungsfrist beträgt bei Bauwerken grundsätzlich fünf Jahre ab Abnahme des Werkes (Art. 371 Abs. 1 und 2 OR; Art. 180 Abs. 1 SIA-Norm 118). Während dieser Frist können somit gerügte Mängel gerichtlich verfolgt werden. Die Verjährung von Mängelrechten kann grundsätzlich nur mittels Klage oder Betreibung (bei Nachbesserungsansprüchen jedoch nicht möglich) unterbrochen werden. In der Praxis unterzeichnen Unternehmer bei drohender Verjährung auf Ersuchen der Besteller regelmässig eine Verjährungsverzichtserklärung, um eine Klage oder Betreibung zu vermeiden.

3.3 Nach SIA-Ordnungen für Planer

Auch Architekten und Ingenieure können Mängel verursachen; dann nämlich, wenn ihre Pläne Fehler enthalten, welche anschliessend in das Bauwerk «verbaut» werden. Ist auf den entsprechenden Planervertrag lediglich das Obligationenrecht anwendbar, müssen solche Mängel ebenfalls innert sieben Tagen nach Entdeckung gerügt werden. Immerhin: Die Verjährungsfrist beträgt auch hier fünf Jahre ab Abnahme des Werkes (unabhängig von der Frage, wann der Planer den Fehler begangen hat; massgebend ist, ob der Mangel im Plan ersichtlich ist und der Plan für die Erstellung des Bauwerkes verwendet wurde; Art. 371 Abs. 2 OR).

Erleichterungen von der strengen gesetzlichen Rügefrist bestehen, wenn im Planervertrag die einschlägigen SIA-Ordnungen 102 (Architekten) oder 103 (Ingenieure) in der neusten Fassung aus dem Jahr 2014 vereinbart wurden. Diese Ordnungen sehen in Art. 1.9.4 zwar vor, dass Mängel grundsätzlich innert 60 Tagen zu rügen sind. Plan- und Berechnungsmängel, die zu einem Mangel am Bauwerk bzw. einem Werkteil führen, kann der Bauherr aber während der ersten zwei Jahre nach dessen Abnahme jederzeit rügen.

3.4 Inhalt und Adressaten der Mängelrüge mit Mustermängelrüge

Nun steht fest: Nach der Abnahme sind Mängel am Werk innert sieben Tagen nach Entdeckung zu rügen, wenn nicht die Rügefrist von zwei Jahren nach SIA-Norm 118 bzw. SIA-Ordnungen läuft. Doch wie hat eine Mängelrüge auszusehen?

Eine Mängelrüge hat so konkret als möglich zu erfolgen. Der Unternehmer muss aus der Beschreibung erkennen können, was an seinem Werk beanstandet wird. Ein allgemeiner Hinweis, das Werk entspreche nicht dem Vertrag, genügt nicht. Vielmehr hat der Besteller dem Unternehmer mitzuteilen, welche Bauteile an welcher Stelle betroffen sind (z. B. «östliche Wand im Kinderzimmer 1») und in welcher Erscheinungsform der Mangel zu Tage tritt (z.B. «ca. 5 mm breiter und 1 m langer Riss»). Dabei muss der Besteller keine technische Sprache verwenden. Es genügt, wenn er den Mangel so beschreibt, wie er ihn sieht (auch in «Laiensprache» möglich). Der Besteller muss auch keine Ursache für den Mangel angeben.

Der Besteller muss sodann ausführen, dass er den Unternehmer für den Mangel haftbar machen will. Dies dürfte in der Regel bereits aus der Mitteilung der Mängel hervorgehen. Um Missverständnissen vorzubeugen, ist jedoch ratsam, das Schreiben explizit als «Mängelrüge» zu bezeichnen und ausdrücklich auszuführen, dass man hiermit dem Unternehmer die Mängel mitteilt und ihn dafür haftbar macht. Er muss aber in der Mängelrüge nicht angeben, welche Mängelrechte er geltend macht, ob er also den Werkvertrag wandelt, eine Nachbesserung des Werks oder eine Minderung des Kaufpreises verlangt.

Die alleinige Zustellung einer Expertise bzw. eines Prüfungsbefundes ist noch keine Mängelrüge. Vielmehr gilt auch hier, dass der Besteller dem Unternehmer mitteilen muss, dass er die Mängel rügt und den Unternehmer hierfür haftbar macht.

Zur Übermittlungsart der Mängelrüge gibt es keine Vorschriften. Aus Beweisgründen (Nachweis der Zustellung) sollte die Mängelrüge jedoch per Einschreiben erfolgen. Die Rügefrist ist eingehalten, wenn die Mängelrüge vor Ablauf der Frist versendet wird.

Adressat der Mängelrüge ist der Unternehmer, welcher für das mangelhafte Werk verantwortlich ist. Das gilt auch dann, wenn der Unternehmer die Arbeiten durch einen Subunternehmer ausführen liess. Ist unklar, welcher Unternehmer oder Planer für den konkreten Mangel verantwortlich sein könnte (etwa, weil mehrere Unternehmer am betroffenen Bauteil gearbeitet haben), so ist zur Sicherheit die Mängelrüge an sämtliche Unternehmer und Planer zuzustellen, welche verantwortlich sein könnten.

Eine Mängelrüge könnte konkret wie folgt lauten:

[Absender des Bestellers]

EINSCHREIBEN

[Adresse des Unternehmers]

Mängelrüge betreffend Risse in der Aussenfassade

Sehr geehrte Frau/Herr [Unternehmer]

Vor zwei Tagen haben wir festgestellt, dass sich an der Aussenfassade unseres neu erstellen Einfamilienhauses an der Zementstrasse 1 in 1234 Kiesingen Risse gebildet haben. Die Risse befinden sich an der Ostfassade des Hauses, oberhalb des Küchenfensters. Es handelt sich um drei Risse, die jeweils ca. 5 mm breit und 1 m lang sind. Beiliegend senden wir Ihnen Fotos, welche die Risse dokumentieren.

Sie haben die Aussenfassade erstellt und verputzt. Wir rügen die genannten Mängel hiermit und machen Sie für diese und die daraus entstehenden Schäden haftbar. Wir bitten Sie, uns umgehend zu kontaktieren.

Mit freundlichen Grüssen

Die Besteller

4. Empfehlungen

Wir schliessen mit folgenden Empfehlungen an Bauherren, die ein Bauwerk übernehmen:

  1. Prüfen Sie ein Werk bei der Abnahme sorgfältig, auch nicht direkt sichtbare Werkteile, sofern zugänglich. Prüfen Sie, ob das Werk den Spezifikationen nach Werkvertrag und Leistungsbeschrieb entspricht. Vereinbaren Sie im Werkvertrag eine Prüffrist, wenn die SIA-Norm 118 nicht anwendbar ist. Vereinbaren Sie auch, welche Prüfungen der Unternehmer vornehmen und nachweisen soll und welche Dokumentation er bei der Abnahme vorlegen muss.
  2. Sämtliche Mängel, welche bei der Abnahme festgestellt -werden, sind gemeinsam zu protokollieren oder durch den Bauherrn innerhalb der Prüffrist dem Unternehmer anzuzeigen.
  3. Rügen Sie nach der Abnahme neu entdeckte Mängel unbedingt umgehend. Die Rüge hat – ausserhalb der zweijährigen Rügefrist nach SIA-Norm 118 – innert sieben Tagen nach Entdeckung des Mangels zu erfolgen. Eine sofortige Rüge empfiehlt sich auch im Anwendungsbereich der zweijährigen Rügefrist nach SIA-Norm 118: Denn auch in diesem Fall muss der Bauherr den Schaden tragen, der entsteht, weil der Mangel nicht unverzüglich angezeigt wird.
  4. Führen Sie bei Anwendbarkeit der SIA-Norm 118 vor Ablauf der zweijährigen Rügefrist eine Schlussprüfung durch und rügen Sie in deren Rahmen alle noch erkennbaren Mängel.
  5. Unterbrechen Sie die Verjährungsfrist vor deren Ablauf mittels Verjährungsverzichtserklärung des Unternehmers oder Klage, wenn gerügte Mängel während der Verjährungsfrist nicht behoben werden.
  6. Bei Unsicherheiten rund um die Abnahme, die Mängelrüge oder die Verjährung empfehlen wir den raschen Beizug eines Rechtsanwalts. Dieser kann Ihnen zeitnah mitteilen, wann und wie die entsprechende Abnahme oder Rüge zu erfolgen hat und ob eine Verjährungsfrist zu unterbrechen ist.

VOSER RECHTSANWÄLTE

Dr. Lukas Breunig-Hollinger

Dr. Thomas Röthlisberger

  1. Dieser LEXpress schliesst an den Vortrag von Dr. Thomas Röthlisberger «Drum prüfe, wer sich bindet» an, der am 1. Aargauer Baupraktikertag am 3. Mai 2018 in Windisch gehalten wurde. Aufgrund der Wichtigkeit des Themas in der Praxis wird dieses in diesem LEXpress weiter vertieft.
  2. Die Begriffe Rüge und Anzeige sind deckungsgleich. Das OR verwendet den Begriff der Anzeige; die SIA-Norm 118 den Begriff der Rüge.

Die Autorinnen und Autoren dieses Beitrags:

Dr. Lukas
Breunig-Hollinger
Rechtsanwalt, Fachanwalt SAV Bau- und Immobilienrecht
+41 56 203 15 43
l.breunig@voser.ch
Dr. Thomas
Röthlisberger
Rechtsanwalt, Fachanwalt SAV Bau- und Immobilienrecht
+41 56 203 15 43
t.roethlisberger@voser.ch
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