LEXPRESS Lieferprobleme

Eine Krise jagt die nächste: Corona, Ukrainekrieg, weltweite Produktions- und Lieferengpässe. Krisen treiben nicht nur die Preise in die Höhe, sie führen auch zu Lieferproblemen für Baumaterialien. Was das bedeutet – und wie mit Lieferproblemen rechtlich umgegangen wird – zeigen wir mit nachfolgendem LEXpress.

1. Ausgangslage

Seit der Corona-Pandemie hat die Bauwirtschaft mit ernsthaften Lieferproblemen zu kämpfen. Das zeigt auch die Medienberichterstattung:

«Die Beschaffung von ausreichenden Mengen Bewehrungsstahl und Bewehrungsmatten aller Dimensionen ist am europäischen Markt nicht mehr gewährleistet»

(Österreichische Bauwirtschaft, 13. April 2022)

«Schweizer Baustellen stehen still, weil der Nachschub stockt»

(NZZ, 17. Juli 2021)

«40 Prozent der Baufirmen sind derzeit von Lieferengpässen betroffen»

(Handelszeitung, 20. Januar 2023)

«Zu wenig Holz, Stahl, Kunststoffröhren – Schweizer Baustellen droht wegen Materialknappheit die Schliessung»

(20 Minuten, 13. Mai 2021)

Lieferprobleme bestehen derzeit durchs Band bei verschiedensten Baumaterialien. Besonders betroffen ist Stahl, aber auch Holz und weitere Materialien fehlen. Bauunternehmer sind entsprechend gefordert, ihre Baumaterialien auf dem Markt erhältlich zu machen und rechtzeitig auf die Baustelle zu bekommen, damit sie das von ihnen zu erstellende Werk der Bauherrschaft rechtzeitig übergeben können. Ist die rechtzeitige Lieferung der Baumaterialien nicht mehr gewährleistet, führt dies zu Verspätungen und in der Folge auch zu Auseinandersetzungen zwischen Bauherrschaft und Unternehmerin.

2. Verzug der Unternehmerin

Die Unternehmerin muss das von ihr geschuldete Werk rechtzeitig herstellen und der Bauherrschaft abliefern. Der Ablieferungs- oder Vollendungstermin ist also der Zeitpunkt, in dem die Übergabe des vollendeten Werks fällig wird. Der Ablieferungstermin wird durch die Vertragsparteien regelmässig durch Vereinbarung eines bestimmten Kalendertages oder einer Frist vereinbart. Zusätzlich können die Parteien auch ­Zwischentermine vereinbaren, innerhalb derer die Unternehmerin gewisse Arbeitsfortschritte erreicht haben muss. Solche Zwischentermine werden bei grösseren Bauarbeiten häufig in einem Bauprogramm als Vertragsbestandteil integriert.

Wenn sich die Unternehmerin mit der Ablieferung ihres Werks oder mit der Einhaltung von Zwischenterminen verspätet, kann sie in Schuldnerverzug geraten, konkret in Ablieferungsverzug (Art. 102 ff. OR).

Die Unternehmerin kann zudem bereits vor Eintritt des Ablieferungstermins in Verzug kommen, wenn sie mit der Herstellung des Werkes nicht rechtzeitig beginnt oder so stark in Rückstand gerät, dass die rechtzeitige Vollendung nicht mehr vorauszusehen ist. In diesem Fall spricht man von Herstellungsverzug (Art. 366 Abs. 1 OR; vgl. Peter Gauch, Der Werkvertrag, 6. Auflage, Zürich 2019, Rz. 668 ff.).

Sofern nicht ein Verfalltag verabredet wurde, setzt die In­verzugsetzung durch die Bauherrschaft grundsätzlich eine Mahnung voraus. Das gilt im Falle des Ablieferungsverzugs und im Falle des Herstellungsverzugs. Weder der Ablieferungs­verzug noch der Herstellungsverzug setzen aber ein Verschulden der Unternehmerin voraus. Die Unternehmerin kann also auch ohne Verschulden in Verzug geraten.

Doch was kann die Bauherrschaft tun, wenn sich die Unternehmerin mit der Ablieferung oder Herstellung des Werkes in Verzug befindet? Diesfalls muss die Bauherrschaft der Unternehmerin eine angemessene Nachfrist zur nachträglichen Erfüllung setzen (Art. 107 Abs. 1 OR). Lässt die Unternehmerin diese Nachfrist ungenutzt verstreichen, kann die Bauherrschaft immer noch auf Erfüllung des Werkvertrages nebst Schadenersatz wegen Verspätung beharren. Die Bauherrschaft kann aber auch durch unverzügliche Erklärung auf die weitere Ausführung des Werks verzichten und entweder Ersatz des Nichterfüllungsschadens verlangen oder vom Vertrag zurücktreten und den Ersatz des Rücktrittschadens fordern (Art. 107 Abs. 2 OR). Der Nichterfüllungsschaden (bei Verzicht) und der Rücktrittsschaden (bei Rücktritt) berechnen sich unterschiedlich: Der Nichterfüllungsschaden entspricht dem sogenannten positiven Vertragsinteresse. Die Bauherrschaft ist dabei von der Unternehmerin finanziell so zu stellen, als ob der Vertrag vereinbarungsgemäss erfüllt worden wäre. Der Rücktritts-schaden hingegen entspricht dem sogenannten negativen Vertragsinteresse. Diesfalls ist die Bauherrschaft von der Unternehmerin so zu stellen, als ob der Vertrag gar nie zustandegekommen wäre (Art. 109 Abs. 2 OR).

3. Schadenersatzpflicht der Unternehmerin

Befindet sich die Unternehmerin in Verzug, haftet sie nebst dem Schaden wegen verspäteter Erfüllung auch für den Zufall (vgl. Art. 103 Abs. 1 OR).

Vorübergehende Leistungshindernisse, wie ungünstige Witterungsverhältnisse, Streik oder eben verspätetes Eintreffen von Baumaterialien schliessen den Schuldnerverzug der Unternehmerin gemäss Gesetz nicht aus; denn diese Umstände fallen nicht in die Sphäre der Bauherrschaft (vgl. Theodor Bühler, in: Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 1998, N 32 zu Art. 366). Dies gilt selbst dann, wenn die Unternehmerin ausserstande ist, dem Hindernis mit zumutbarem Aufwand zu begegnen (vgl. Gauch, a.a.O., Rz. 681). Die Bauherrschaft kann entsprechend zum Beispiel nach Ablauf der Nachfrist trotzdem vom Vertrag zurücktreten.

Zwar kann die Unternehmerin in Verzug geraten, ohne dass sie ein Verschulden trifft. Soll die Unternehmerin aber für Verspätungsschäden und Zufall schadenersatzpflichtig gehalten werden, ist ein Verschulden am eingetretenen Verzug nötig (vgl. Peter Gauch, a.a.O., Rz. 661). Art. 97 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 2 OR sehen eine Beweislastumkehr bezüglich des Verschuldens vor. Demnach hat die Unternehmerin den Schaden der Bauherrschaft nicht zu ersetzen, wenn sie sich exkulpieren kann, das heisst, wenn sie beweisen kann, dass sie am Verzug kein Verschulden trifft (vgl. Peter Gauch, a.a.O., Rz. 663).

Die herrschende Lehre geht denn auch richtigerweise davon aus, dass die gesetzliche Konzeption des Werkvertrags eine Risikoverteilung zu Lasten der Unternehmerin vorsieht. Neu­trale Umstände, bei welchen die Unternehmerin keine Schuld trifft, schliessen den Verzug nicht aus, jedoch gegebenenfalls den Schadenersatzanspruch (vgl. Peter Gauch, a.a.O., Rz. 681; Alfred Koller, in: Berner Kommentar, N 155 zu Art. 366).

Unternehmerverbände versuchen ihre Mitglieder bei der Führung des Exkulpationsbeweises zu unterstützten und führen in ihren Publikationen teilweise sehr allgemein aus, dass ein solcher Beweis bei der aktuellen Roh- und Baustoffknappheit wohl gelingen wird (vgl. beispielsweise Infoblatt Lieferengpässe aufgrund Roh- und Baustoffknappheit suissetec vom 26. Mai 2021, Ziff. 1).

Ganz so einfach wird es konkret nicht sein. Zwar ist ein Materiallieferant keine Hilfsperson der Unternehmerin, so dass die Unternehmerin an Lieferstörungen des Lieferanten grundsätzlich keine Schuld trifft. Die Unternehmerin selbst hat aber die Pflicht, alle zumutbaren Massnahmen zur Einhaltung der vertraglichen Fristen zu treffen, so dass bei einem entsprechenden Versäumnis ein Verschulden der Unternehmerin gegeben ist. Die Unternehmerin hat demnach – gerade in den heutigen unsicheren Zeiten – die Pflicht, vorausschauend und frühzeitig die für ihr Werk erforderlichen Materialien zu bestellen und ein dem Bauvorhaben und dem Bauprogramm angemessenes Vorratslager zu unterhalten. In unsicheren Zeiten können Just-In-Time-Lieferungen nicht mehr unbedingt als Rechtfertigungsgrund gelten, wenn diese ausbleiben, insbesondere wenn die Zeitspanne zwischen Werkvertragsabschluss und Bauausführung ausreichend lang zur Sicherstellung der notwendigen Materiallieferungen ist.

Ist ein Anspruch der Bauherrschaft auf Schadenersatz gegenüber der Unternehmerin gegeben, weil sich diese nicht exkulpieren kann, sind der Bauherrschaft ihre effektive Vermögensminderungen aus der Verspätung sowie entgangener Gewinn zu ersetzen. Verspätungsschäden sind dabei insbesondere der Mehraufwand an Baukreditzinsen sowie Mindereinnahmen durch Mietzins- oder Produktionsausfälle. Können Wohnungskäufer nicht rechtzeitig einziehen, sind auch Hotel- und Möbellagerkosten ersatzfähige Schäden. Allenfalls kann der Verspätungsschaden auch darin bestehen, dass die Bauherrschaft gegenüber Dritten Schadenersatz oder eine Konventionalstrafe bezahlen muss. Nach herrschender Lehre ist der reine Nutzungsausfall, d. h. wenn die Bauherrschaft eine bestimmte Sache wie z. B. ein Swimming Pool für eine bestimmte Zeit nicht gebrauchen kann, ohne dass zusätzliche Kosten entstehen, nicht ersatzfähig (vgl. Peter Gauch, a.a.O., Rz. 665).

Wurde eine Konventionalstrafe für Verspätung vereinbart, steht der Unternehmerin je nach vertraglicher Vereinbarung der Exkulpationsbeweis ebenfalls offen: Wurde vertraglich nichts Besonderes vereinbart, kann die Konventionalstrafe nur gefordert werden, wenn der Unternehmerin die Verspätung durch eigenes Verschulden vorgeworfen werden kann (vgl. sinngemäss Art. 163 Abs. 2 OR). Ob die Bauherrschaft einen Schaden erleidet, hat jedoch keinen Einfluss auf den Verfall der Konventionalstrafe (vgl. Art. 161 Abs. 1 OR). Demnach ist die Konventionalstrafe unabhängig von einem Schaden (bei Verschulden) zu leisten. Resultiert jedoch ein Schaden, kann einzig der die Konventionalstrafe übersteigende Mehrbetrag gefordert werden (vgl. Art. 161 Abs. 2 OR).

Abweichend vom Gesetz kann die Konventionalstrafe vertraglich verschuldensunabhängig ausgestaltet werden, d. h. die Unternehmerin hat die Konventionalstrafe auch dann zu bezahlen, wenn sie am Verzug kein Verschulden trifft (vgl. Peter Gauch, a.a.O., Rz. 697 ff.).

Eine unter Anwendung der SIA-Norm 118 vereinbarte Konventionalstrafe (vgl. Art. 98 SIA-Norm 118) ist ebenfalls verschuldensabhängig (analog Art. 163 Abs. 2 OR) und stellt einen Anwendungsfall von Art. 160 Abs. 2 OR dar, d. h. dass auch im Bereich von Art. 98 SIA-Norm 118 die Konventionalstrafe kumulativ zur Vertragserfüllung gefordert werden kann (vgl. Peter Reetz, in: Kommentar zur SIA-Norm 118, N 1.4 ff. zu Art. 98).

4. Fristerstreckung nach SIA-Norm 118

Wie ausgeführt, kann die Unternehmerin nach Gesetz auch dann in Verzug geraten, wenn sie an der Verspätung keine Schuld trifft. Die SIA-Norm 118 weicht von dieser gesetzlichen Regelung bedingt zugunsten der Unternehmerin ab. Ist – wie fast üblich – in einem Werkvertrag die Anwendbarkeit der SIA-Norm 118 vereinbart, hat die Unternehmerin nach Art. 96 Abs. 1 dieser Norm Anspruch auf angemessene Fristerstreckung, wenn sich die Ausführung des Werkes ohne ihr Verschulden verzögert und sie die zusätzlichen Massnahmen getroffen hat, zu denen sie nach Art. 95 SIA-Norm 118 verpflichtet ist. Zudem setzt der Anspruch voraus, dass die Unternehmerin die Verzögerung und ihre Ursache – wie eine konkrete Lieferstörung – der Bauleitung sofort anzeigt, es sei denn, die Bauleitung kenne die Verzögerung und deren Ursache bereits. In der Anzeige soll die Unternehmerin auch eine Einschätzung hinsichtlich des Ausmasses und der Folgen der Verzögerung abgeben. Ohne die erforderliche Anzeige besteht kein Anspruch auf Fristerstreckung.

Gestützt auf Art. 95 SIA-Norm 118 muss die Unternehmerin von sich aus und mit Mitteilung an die Bauleitung diejenigen Beschleunigungsmassnahmen getroffen haben, welche ihr ohne zusätzliche Vergütung zugemutet werden können. In Frage kommen zum Beispiel die Anpassung der Baustellen­einrichtung, die Erhöhung der Zahl der ArbeiterInnen oder die Anordnung zusätzlicher Schichten, dies jedoch immer in Abhängigkeit von der Grösse und der effektiven Kapazitäten der Unternehmerin, wenn sie an der Verzögerung kein Verschulden trifft.

Genügen diese zumutbaren Massnahmen voraussichtlich aber nicht, um die Fristen einhalten zu können, muss die Unternehmerin von sich aus und ebenfalls unverzüglich der Bauherrschaft weitere konkrete, aber vergütungspflichtige Massnahmen offerieren, so dass die Bauherrschaft die Wahl hat, entweder die zusätzlichen Beschleunigungsmassnahmen zu bestellen oder der Unternehmerin eine Fristerstreckung zu gewähren. Lehnt die Bauherrschaft die vergütungspflichtigen Massnahmen ab, entsteht der Anspruch der Unternehmerin auf angemessene Fristerstreckung (vgl. Hans Rudolf Spiess / Marie-Theres Huser, Stämpflis Handkommentar zur Norm-SIA 118, N 6 ff. zu Art. 95).

Die Dauer der Fristerstreckung ist einzelfallabhängig festzu­legen. Die Unternehmerin muss jedenfalls ausreichend Zeit erhalten, um die neue Frist einhalten zu können. Können sich die Parteien nicht auf die Dauer der Fristerstreckung einigen, müsste darüber letztlich das Gericht entscheiden; denn der Unternehmerin kommt kein Rücktrittsrecht zu, wenn die Bauherrschaft einem berechtigten Begehren um angemessene Fristerstreckung nicht zustimmt (vgl. Peter Reetz, in: Kommentar zur SIA-Norm 118, N 5.1 ff. zu Art. 96).

Kommt der Unternehmerin kein Anspruch auf Fristerstreckung zu, weil der Verzug verschuldet ist, schuldet sie im Übrigen auch im Anwendungsbereich der SIA-Norm 118 der Bauherrschaft Schadenersatz und – wenn vereinbart – eine Konventionalstrafe infolge Verzögerung (vgl. Art. 97 f. SIA-Norm 118).

5. Fazit

In unsicheren Zeiten wie diesen muss die Unternehmerin durch vorausschauende Planung versuchen sicherzustellen, dass sie das notwendige Baumaterial rechtzeitig auf die Baustelle geliefert bekommt, um ihr Werk fristgerecht fertigstellen zu können. Bleibt eine Materiallieferung trotz frühzeitiger Bestellung aus, kann der Unternehmerin im Anwendungsbereich der SIA-Norm 118 – anders als nach Gesetz – ein Anspruch auf angemessene Fristerstreckung zur Fertigstellung ihres Werks zukommen. Hat die Unternehmerin aber die rechtzeitige Sicherung des erforderlichen Baumaterials vernachlässigt, wird sie der Bauherrschaft für den entstehenden Verspätungsschaden ersatzpflichtig.

VOSER RECHTSANWÄLTE

Dr. Lukas Breunig-Hollinger

Dr. Thomas Röthlisberger

MLaw Dominik Greder

Die Autorinnen und Autoren dieses Beitrags:

Dr. Lukas
Breunig-Hollinger
Rechtsanwalt, Fachanwalt SAV Bau- und Immobilienrecht
+41 56 203 15 43
l.breunig@voser.ch
Dr. Thomas
Röthlisberger
Rechtsanwalt, Fachanwalt SAV Bau- und Immobilienrecht
+41 56 203 15 43
t.roethlisberger@voser.ch
MLaw Dominik
Greder
Rechtsanwalt, MAS UZH in Real Estate
+41 56 203 10 39
d.greder@voser.ch
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