Rechtsfall 36, Die Auflösung

Notariat / Rechtsfall 36

Im Garten unseres Nachbarn steht ein grosser Apfelbaum. Wir leiden unter dem Schatten und den herabfallenden Blättern. Dürfen wir ihn fällen?

Der Apfelbaum steht im Garten des Nachbarn und somit auf fremdem Boden. Der Nachbar ist Eigentümer des Apfelbaums. Ein Fällen des Apfelbaums ohne Einwilligung des Nachbarn ist eine Sachbeschädigung und geht durch das Betreten des Gartens mit einem Hausfriedensbruch einher.

Ein Fällen des Apfelbaums ohne Zustimmung des Nachbarn ist somit unrechtmässig und strafbar.

Bäume müssen aber die im jeweiligen Kanton geltenden Abstandvorschriften einhalten. Halten sie diesen nicht ein, kann vom Nachbarn die Beseitigung des Baumes verlangt werden.

Detaillierte rechtliche Auslegung

1.    Abstandsvorschriften für Bäume, Sträucher und Hecken

Die Abstandsvorschriften für Bäume, Sträucher und Hecken sind kantonal geregelt. Das Einführungs-gesetz zum Zivilgesetzbuch des Kantons Aargau enthält in § 66 und 67 (in Kraft ab 1. Januar 2018) folgende Vorschriften:

Pflanze Abstand zur Grenze in Meter
Grünhecken bis 1.8 m Höhe in der Bauzone, ab Stockmitte
0.6
Grünhecken über 1.8 m Höhe in der Bauzone, ab Stockmitte
Heckenhöhe
Grünhecken von beliebiger Höhe in der Landwirtschaftszone, ab Heckenrand
0.6
andere Pflanzen bis 1.8 m Höhe, ab Stockmitte
kein Grenzabstand
andere Pflanzen über 1.8 m bis 3 m Höhe, ab Stockmitte
1 Meter
andere Pflanzen über 3 m bis 7 m Höhe, ab Stockmitte
2 Meter
andere Pflanzen über 7 m bis 12 m Höhe, ab Stockmitte
halbe Pflanzenhöhe
Nuss-, Kastanien- und andere Bäume über 12 m Höhe, ab Stockmitte
6
Reben über 1.8 m Höhe
0.5
Obstbäume über 7 m Höhe
3
gegenüber Waldboden beträgt der Grenzabstand für alle Pflanzungen
0.5
gegenüber Rebland erhöht sich Grenzabstand für alle Pflanzungen um
+2
gegenüber Landwirtschaftszone sind alle Pflanzungen zurückzuschneiden au
0.6

Ab Stockmitte gemessen heisst, der Grenzabstand wird bei einem Baum und einer Pflanzenhecke an der Erdoberfläche vom Mittelpunkt des Stammquerschnitts bis zur Grenze gemessen. Gehölze gegenüber der Bauzone müssen so geschnitten werden, dass sie nicht über die Grenze wachsen. 

Ab Hecken- oder Gehölzrand gemessen bedeutet, dass bei einer Hecke, Strauch oder Baum der von der Grenze am nächsten gelegene Trieb zu messen ist. Der Eigentümer kann die grenznahen Triebe entfernen, um den Grenzabstand zu vergrössern. Der Grenzabstand von 0,6 Meter gegenüber Landwirtschaftszone soll die ungehinderte, landwirtschaftliche Bewirtschaftung ermöglichen.  

Die Messung der Höhe gestaltet sich insbesondere im geneigten Gelände oder bei Niveauunterschieden schwierig und ist oft fehlerbehaftet. Als Grundsatz gilt, dass vom Fuss der Pflanze (Austritt aus dem Boden) bis zur obersten Spitze zu messen ist. Dies gilt auch dann, wenn das benachbarte Grundstück wesentlich höher oder tiefer gelegen ist. Wurde der Boden künstlich aufgeschüttet, ist das mut-massliche Niveau des ursprünglich gewachsenen Bodens am Standort der Pflanze massgebend. Die Höhe der künstlichen Aufschüttung wird somit zur Höhe der Pflanze hinzugerechnet.

2.    Einhalten der Abstandsvorschriften

Verletzen Pflanzen die Abstandsvorschriften, hat der Eigentümer diese zu beseitigen oder so unter Schere zu halten, dass die Vorschriften eingehalten sind. Der Rückschnitt kann jederzeit und unter Umständen auch mehrmals pro Jahr verlangt werden. Bei der Durchsetzung des Anspruchs sind die Vegetationszeiten wenn möglich zu berücksichtigen. Der Nachbar kann aber selbst dann auf ein Zurückschneiden bestehen, wenn die Pflanze dadurch Schaden erleidet oder abstirbt. Der Anspruch auf Zurückschneiden ist in sämtlichen Kantonen unverjährbar.

Für die Klage auf Beseitigung einer Pflanze im Unterabstand sehen die meisten kantonalen Gesetze eine Verjährung vor. Im Kanton Zürich beträgt die Verjährungsfrist beispielsweise 5 Jahre nach der Pflanzung. Der Kanton Aargau kennt dagegen keine gesetzlichen Verjährungsfristen. Der Beseitigungsanspruch kann jedoch wegen verzögerter Rechtsausübung nach 30 Jahren verwirken, wenn in diesen Jahren keine erhebliche Mehrbelastung eingetreten ist. Selbst wenn die Verjährung nach kantonalem Recht eingetreten ist, kann aber bei einer übermässigen Einwirkung durch Schattenwurf oder Beeinträchtigung einer hervorragenden Seesicht eine Beseitigung der Pflanzen nach Bundesrecht (Art. 679/684 ZGB) verlangt werden.

Stellt der Nachbar auf mündliche und schriftliche Aufforderung hin die rechtmässige Situation nicht her, ist eine Klage beim zuständigen Gericht einzureichen. Eine Beseitigung von Pflanzen auf dem Nachbargrundstück mittels Selbsthilfe ist unzulässig und kann Schadenersatzansprüche des Pflanzeneigentümers zur Folge haben.

3.    Kapprecht

Anders sieht es bei überhängenden Ästen und eindringenden Wurzeln aus. Diese kann der Nachbar, wenn sie sein Eigentum schädigen und auf seine Beschwerde hin nicht innert angemessener Frist beseitigt werden, kappen und für sich behalten. Duldet der Grundeigentümer das Überragen von Ästen auf bebauten oder überbauten Boden, so hat er ein Recht auf die an ihnen wachsenden Früchte.

Das Kapprecht setzt eine Grenzüberschreitung voraus und gilt auch für Kletterpflanzen, Stauden und Hecken. Pflanzen welche auf der Grundstückgrenze stehen, werden davon nicht erfasst. Sie gehören den beiden Anstössern grundsätzlich je zur Hälfte. Wertlose Einjahrespflanzen, insbesondere Unkraut, dürfen ohne Weiteres abgeschnitten werden, auch wenn keine Schädigung besteht oder keine Frist zu Beseitigung angesetzt wurde.

Das Kapprecht ist nur gegeben, wenn eine erhebliche Beeinträchtigung besteht. Ob die Beeinträchtigung über das gewöhnliche Mass hinausgeht, hängt von der Lage und der Nutzungsweise des Grundstücks ab. Sie muss von einem normal empfindlichen Nachbarn unter den gegebenen Umständen als übermässig empfunden werden. Eine zukünftige Entwicklung ist nur zu berücksichtigten, wenn dem Nachbarn bei einem Zuwarten ein Nachteil entstehen würde.

Einwirkungen durch Laub-, Blüten-, Nadelfall, Fallobst, Tropfenfall, Schattenwurf, Verhinderung der Aussicht oder durch das Anziehen von Insekten sind normalerweise nicht übermässig. 

Eine erhebliche Beeinträchtigung ist anzunehmen, wenn der Nachbar in der Benützung von Parkplätzen, Strassen oder Wege behindert ist, Gartenarbeiten nur noch in gebückter Haltung vorgenommen werden können, ein Bauvorhaben erschwert wird, unterirdische Sprossen zu ungewünschten Pflanzen führen, Wurzeln den Unterhalt oder die Erstellung eines Weges, einer Leitung oder eines Bauwerkes behindern oder diese beschädigen.

Mit der Beschwerde ist dem Nachbarn eine angemessene Frist anzusetzen. Der Nachbar muss Zeit haben, den Sachverhalt abzuklären, den Überhang selber zu beseitigen oder durch einen Gärtner beseitigen zu lassen. Der Nachbar darf das Grundstück nach Vorankündigung betreten, um Gehölze an oder auf der Grenze zu schneiden und zu unterhalten. Für daraus entstehenden Schaden hat er Ersatz zu leisten. 

Beim Rückschnitt ist auf die natürliche Vegetationszeit Rücksicht zu nehmen. Bei einem Baum sollte die Beseitigung des Überhangs zwischen dem 1. November und dem 1. März verlangt werden. Bei Zierbäumen und Sträuchern ist eine Kappung in der Regel jederzeit möglich. Die Frist muss in Tagen, Wochen oder Monaten bestimmt sein. Mit einer zu kurz angesetzten Frist fängt automatisch eine an-gemessene Frist an zu laufen.

Läuft die angemessene Frist ab und werden die überhängenden Äste und Wurzeln nicht beseitigt, kann der Nachbar diese selber abschneiden. Dabei dürfen nur so viele Äste und Wurzeln gekappt werden, die für die Beseitigung der Beeinträchtigung notwendig ist. Ein Rückschnitt der Äste und Wurzeln ist nur bis maximal zur Grundstücksgrenze zulässig. Das Abschneiden von Ästen am Stamm ist somit nicht erlaubt, selbst wenn zukünftige Beeinträchtigungen durch das Nachwachsen der Äste zu erwarten sind.

Der kappende Nachbar hat, abgesehen von der Möglichkeit, das abgeschnittene Holz zu behalten, keinen Anspruch auf Ersatz seiner Auslagen. Ist die Kappung mit Kosten verbunden, muss der Nachbar auf die Kappung verzichten und stattdessen die Beseitigung der überhängenden Äste und eindringen-den Wurzeln mit einer gerichtlichen Klage verlangen.

4.    Vertragliche Vereinbarungen

Mit schriftlicher Zustimmung der betroffenen Eigentümer können die Abstände reduziert oder aufgehoben werden. Eine solche Vereinbarung gilt aber nur unter den Eigentümern, welche die Vereinbarung unterzeichnet haben. Verkauft der Nachbar seine Liegenschaft und wurde diese Vereinbarung nicht vom bisherigen Eigentümer auf den neuen Eigentümer übertragen, kann sie dem neuen Eigentümer nicht entgegengehalten werden. Soll die Vereinbarung auch gegenüber einem neuen Eigentümer gelten, ist die Begründung eines Näherpflanzrechts als Dienstbarkeit erforderlich. Eine solche wird mit öffentlicher Beurkundung beim Notar und anschliessender Eintragung im Grundbuch errichtet. Der Beseitigungsanspruch und das Kapprecht des Nachbarn sind durch diese Dienstbarkeit aufgehoben.

5.    Richtiges und gerichtliches Vorgehen

Prozesse belasten die nachbarrechtliche Beziehung schwer und über eine lange Zeitdauer. Oft ist aufgrund der Überlastung der Gerichte nicht mit einem schnellen Entscheid zu rechnen. Es empfiehlt sich ausnahmslos, mit dem Nachbarn das Gespräch zu suchen, auf dessen Bedürfnisse einzugehen und nach Möglichkeit eine Vereinbarung zu treffen, die längerfristig für beide Seiten zu befriedigen vermag.

Ist keine aussergerichtliche Lösung möglich, muss eine Klage beim Friedensrichter eingereicht wer-den. Dieser versucht, eine Einigung unter den Nachbarn herbeizuführen. Kommt keine Einigung zustande, kann eine Klage beim Bezirksgericht am Wohnort der Parteien erhoben werden. Eine direkte Klage beim Bezirksgericht ist nur möglich, wenn der Nachbar sofort die Beseitigung einer eingetretenen Störung verlangt. Bei wachsenden Pflanzen ist schwierig feststellbar, seit wann eine Störung besteht und ob der Nachbar sofort reagiert hat. Anders sieht dies bei einer Neupflanzung aus, welche den gesetzlichen Grenzabstand nicht einhält.

Bei der Geltendmachung einer Beseitigung bzw. Rückschnitt von Pflanzen, welche seit längerem bestehen, sollte somit der ordentliche Prozessweg mit vorgängiger Anrufung des Friedensrichters beschritten werden.

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