Allgemeines Zivilrecht / Rechtsfall 15
Ich bin auf der Autobahn an einem Langsamfahrer auf der Überholspur rechts vorbeigerollt. Bekomme ich nun mit der Polizei Probleme?
Grundsätzlich Ja. Das Vorfahren auf der Normalspur ist in der Regel nicht erlaubt. Es wird als grobe Verkehrsregelverletzung gewertet und hat einen Ausweisentzug von mindestens drei Monaten zur Folge. In wenigen Fällen ist das Rechtsvorbeifahren jedoch erlaubt. Ein solcher Fall liegt insbesondere vor, wenn dichter Verkehr herrscht und Autos auf der Überholspur langsamer werden. Dann muss der Automobilist auf der Normalspur nicht abbremsen, sondern darf mit gleicher Geschwindigkeit weiterfahren – auch wenn er dann an den Autos auf der Überholspur vorbeifährt.
Detaillierte rechtliche Auslegung
Dass Rechtsüberholen gefährlich ist und mit happigen Strafen und einem mehrmonatigen Führerausweis belegt wird, ist allgemein bekannt. Weniger bekannt ist, dass auch das blosse Rechtsvorbeifahren – ohne Wiedereinbiegen auf die Überholspur – ähnlich scharf verfolgt wird. Immerhin hat das Bundesgericht in einem jüngeren Entscheid die entsprechende Praxis etwas gelockert.
1. Gesetzliche Grundlagen
Gemäss Art. 35 Abs. 1 SVG ist links zu überholen.
Gemäss Lehre und Rechtsprechung wird das Rechtsüberholen auf Autobahnen als grobe Verkehrsregelverletzung qualifiziert (Art. 90 Abs. 2 des Strassenverkehrsgesetzes SVG). Das heisst: Der fehlbare Lenker wird mit einer (beim Ersttäter bedingten) Geldstrafe belegt. Zusätzlich muss er in der Regel eine Busse zahlen und die Verfahrenskosten übernehmen. Hinzu kommt ein vom Strassenverkehrsamt separat verfügter Führerausweisentzug von mindestens drei Monaten.
Dasselbe gilt grundsätzlich auch für das blosse Rechtsvorbeifahren (ohne Ausschwenken und Wiedereinbiegen): Auch dieses stellt grundsätzlich eine grobe Verkehrsregelverletzung dar. Es gibt einige wenige Konstellationen, in welcher das Rechtsvorbeifahren auf der Autobahn erlaubt ist.
Diese liegen in folgenden Fällen vor:
- Beim Fahren in parallelen Kolonnen (Art. 8 Abs. 3 und Art. 36 Abs. 5 lit. a der Verkehrsregelnverordnung VRV);
- auf Einspurstrecken, sofern für die einzelnen Fahrstreifen unterschiedliche Fahrziele signalisiert sind (Art. 36 Abs. 5 lit. b VRV);
- auf dem Beschleunigungsstreifen von Einfahrten bis zum Ende der Doppellinien-Markierung (Art. 36 Abs. 5 lit. c VRV);
- und auf dem Verzögerungsstreifen von Ausfahrten (Art. 36 Abs. 5 lit. c VRV).
Eine jüngste Praxisänderung des Bundesgerichts betrifft den Fall des Fahrens in parallelen Kolonnen. Auf diesen Fall wird nachfolgend genauer eingegangen.
2. Neuster Entscheid des Bundesgerichts
Das Bundesgericht war lange Zeit sehr zurückhaltend mit der Annahme von Kolonnenverkehr. So musste ein Automobilist auf der rechten Spur sogar bremsen, wenn die Fahrzeuge auf der linken Spur langsamer wurden; der Automobilist rechts durfte an den Autos links nicht vorbeifahren.
Mit einem Entscheid vom 3. März 2016 (BGE 142 IV 93) hat das Bundesgericht seine Praxis nun gelockert. Kolonnenverkehr wird nun rascher angenommen. Damit sind die Voraussetzungen für ein erlaubtes Rechtsvorbeifahren einfacher geworden.
Im konkreten Fall ist ein Automobilist auf der A1 im Kanton Bern auf der Normalspur ohne zu Beschleunigen mit einer Geschwindigkeit von ca. 90 km/h rechts an zwei Fahrzeugen vorbeigefahren, als diese ihre Geschwindigkeit leicht verzögerten. Auf der von ihm befahrenen rechten Spur herrschte im Gegensatz zu den beiden Überholspuren reger, aber kein dichter Verkehr. Die Berner Instanzen verurteilten den Mann wegen verbotenem Rechtsvorbeifahren. Das Bundesgericht hat diese Urteile jedoch aufgehoben. Es hielt fest, dass die bisherige bundesgerichtliche Definition von Kolonnenverkehr dem heutigen Verkehrsaufkommen nicht mehr gerecht werde. Aufgrund des notorischen Linksfahrens auf Autobahnen herrsche auf den Überholspuren häufig im Gegensatz zur Normalspur dichterer Verkehr. Daher sei das passive Rechtsvorbeifahren auf der Normalspur mit konstanter Geschwindigkeit zu erlauben (BGE 142 IV 93, E. 4.2.1.). Wenn die Verkehrsdichte auf der linken (und allenfalls mittleren) Überholspur so stark ist, dass sich die Fahrzeuge auf allen Spuren mit praktisch gleicher Geschwindigkeit fortbewegen, muss der vorbeifahrende Fahrzeuglenker also nicht abbremsen. Er darf aber auch nicht Gas geben.
3. Fazit
Ein Automobilist muss – sofern auf der Überholspur dichter Verkehr herrscht – auf der Normalspur nicht mehr extra bremsen, wenn er rechts an Autos auf der Überholspur vorbeirollt. Es liegt diesfalls kein strafbares Rechtsvorbeifahren vor. Der Automobilist darf aber nicht beschleunigen. Auch darf er nicht ausschwenken und wiedereinbiegen (verbotenes Rechtsüberholen).