Allgemeines Zivilrecht / Rechtsfall 1
Ich habe an der Kasse vergessen, einen Artikel zu scannen. Bin ich ein Ladendieb?
Um einen Diebstahl zu begehen, muss man vorsätzlich handeln. Das bedeutet, Sie müssen gewusst haben, dass es sich um einen Diebstahl handelt und diesen auch bewusst gewollt haben. Man müsste Ihnen also nachweisen, dass Sie den Artikel nicht bezahlen wollten. Einen fahrlässigen Diebstahl gibt es nicht.
Wenn Sie an der Kasse vergessen, einen Artikel einzuscannen, so handeln Sie nicht vorsätzlich. Der Tatbestand des Diebstahls ist NICHT erfüllt. Die meisten Geschäfte sehen in ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen betreffend das Self-Checkout vor, dass das Personal Stichproben durchführen kann. Wird nach einem Vergleich der eingekauften Artikel mit dem Kassenbon eine Abweichung festgestellt, können Ihre Personalien aufgenommen werden. Bei mehrmaligem Verdacht auf Diebstahl behalten sich die Geschäfte sodann allfällige rechtliche Schritte vor. Sind Ihre Personalien in diesem Zusammenhang schon mehrmals registriert worden, kann dies unter Umständen als Indiz für Vorsatz ausgelegt werden.
Seit einigen Jahren bieten Detailhändler wie Migros und Coop ihren Kunden einen Self-Checkout Service an. Kunden scannen ihre Einkäufe dabei an einer unbedienten Kasse selbständig ein und können diese gleich mit der Karte oder mit Bargeld bezahlen. Dabei kann es vorkommen, dass ein Kunde vergisst, einen Artikel einzuscannen und diesen in der Folge ohne zu bezahlen mitnimmt. Aus rechtlicher Sicht stellt sich die Frage, ob sich ein Kunde deshalb wegen Diebstahls strafbar macht.
Detaillierte rechtliche Auslegung
1. Objektiver Tatbestand
Gemäss Art. 139 Ziffer 1 Strafgesetzbuch (StGB) begeht einen Diebstahl, wer jemandem eine fremde bewegliche Sache zur Aneignung wegnimmt, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern. Wegnahme ist Bruch fremden und Begründung neuen, meist eigenen Gewahrsams. Gewahrsam besteht in der tatsächlichen Sachherrschaft verbunden mit Herrschaftswillen (BGE 115 IV 104 E. 1aa). Als Bruch gilt die Aufhebung fremden Gewahrsams gegen den Willen des bisherigen Inhabers. Ob und wann neuer Gewahrsam begründet worden ist, bestimmt sich nach den allgemeinen Regeln des sozialen Lebens (BGE 132 IV 108 E. 2.1).
Vorliegend handelt es sich bei den Artikeln im Laden offensichtlich um bewegliche Sachen, welche für den Kunden auch fremd sind, da sie sich im Eigentum des jeweiligen Detailhändlers befinden. Auch hat der Detailhändler Gewahrsam an den Artikeln, da diese innerhalb der Räumlichkeiten in seinem Herrschaftsbereich sind und der Herrschaftswille dadurch zum Ausdruck gebracht wird, dass die Waren nur gegen Bezahlung mitgenommen werden dürfen.
Wann der Gewahrsamsbruch eintritt und neuer Gewahrsam begründet wird, mithin die Wegnahme erfolgt, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Entscheidend ist, ob der Täter durch die Ergreifung der Sache die Möglichkeit zur Wegschaffung der Sache begründet. So ist eine Wegnahme gegeben, wenn der Täter die Sache – obwohl er sich noch im Laden bzw. in dessen Herrschaftsbereich befindet – versteckt, bspw. in seinen Taschen oder unter seinen Kleidern. Trägt er die Sache hingegen offen, z.B. in einem Einkaufswagen, so ist die Wegnahme erst bei Verlassen des Ladens erfolgt (vgl. Niggli/Riedo, BSK-StGB II, 3. Auflage 2013, N65 zu Art. 139).
Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass der Kunde spätestens bei Durchschreiten der Türe ins Freie hinaus neuen Gewahrsam begründet.
2. Subjektiver Tatbestand
In subjektiver Hinsicht setzt der Tatbestand zunächst Vorsatz voraus. Vorsätzlich handelt, wer die Tat mit Wissen und Willen ausführt (Art. 11 Abs. 2 StGB). Der Vorsatz muss sich auf alle objektiven Tatbestandselemente beziehen, d.h. namentlich auf die Fremdheit der Sache sowie die Wegnahme.
Weiter ist Aneignungsabsicht erforderlich. Aneignen meint die äusserlich erkennbare Verwirklichung des Aneignungswillens, d.h. im Wesentlichen, dass sich der Täter die Verfügungsmacht des Berechtigten anmasst (BGE 129 IV 223 E. 6.2.1).
Schliesslich fordert Art. 139 StGB auch die Absicht der unrechtmässigen Bereicherung, mithin die Absicht des Täters, sich einen Vermögensvorteil zu verschaffen. Bereicherung ist jede wirtschaftliche Besserstellung im Sinne des strafrechtlichen Vermögensbegriffs (BGE 91 IV 130 E. 2a).
In casu vergisst der Kunde, einen Artikel einzuscannen. Dies begründet offensichtlich keinen Vorsatz, da der Kunde den Artikel nicht wissentlich und willentlich nicht eingescannt hat, um so den Artikel ohne Bezahlung mitnehmen zu können.
Im Übrigen ist hervorzuheben, dass sich gerade bei Ladendiebstählen der Vorsatz auf Wegnahme bzw. die Aneignungs-und Bereicherungsabsicht nicht ohne Weiteres nachweisen lassen (vgl. Urteil des BGer 6B_100/2012 vom 5. Juni 2012).
Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Detailhändler, welche solche Self-Checkout Kassen im Einsatz haben, statuieren unter anderem das Recht auf Stichproben. Der Kunde hat sich allfälligen Stichproben durch das Personal zu unterziehen. Wird nach einem Vergleich des getätigten Einkaufs mit dem Kassenbeleg eine Abweichung festgestellt, so können die Personalien des Kunden registriert werden (vgl. etwa die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Migros betreffend «Subito Self-Checkout», abrufbar unter: https://subito.migros.ch/de/self-checkout.html). Wird ein Kunde in diesem Zusammenhang mehrmals registriert, kann dies unter Umständen ein Indiz für Vorsatz bzw. Aneignungs- und Bereicherungsabsicht darstellen. Im Einzelfall liegt die Beurteilung der Strafbarkeit jedoch stets im Ermessen des zuständigen Gerichts.
3. Geringfügiges Vermögensdelikt
Da es sich bei Ladendiebstählen in der Regel um kleinere Beträge handelt, kann Art. 172ter StGB einschlägig sein Dieser Tatbestand stellt eine Privilegierung für Fälle kleiner Vermögensdelinquenz dar. Gemäss Art. 172ter StGB wird der Täter – auf Antrag – mit Busse bestraft, wenn sich die Tat auf einen geringen Vermögenswert oder geringen Schaden richtet. Ein Diebstahl etwa wird so auf die Stufe der Übertretung herabgesetzt und die Strafverfolgung an einen entsprechenden Strafantrag geknüpft (vgl. zum Ganzen Weissenberger, BSK-StGB-II, 3. Auflage 2013, N4 ff. zu Art. 172ter). Das Bundesgericht hat die Grenze für einen geringen Wert bzw. Schaden auf je CHF 300 festgesetzt (BGE 123 IV 119 E. 3d).
4. Fazit
Vergisst ein Kunde, einen bestimmten Artikel einzuscannen, so macht er sich nicht des Diebstahls strafbar, da der subjektive Tatbestand, namentlich der Vorsatz, fehlt. Kommt dies mehrmals vor und werden dabei jeweils die Personalien des betreffenden Kunden registriert, ist nicht ausgeschlossen, dass der Detailhändler Strafanzeige resp. Strafantrag einreicht. Dabei kann die wiederholte Registrierung des Kunden als Indiz für Vorsatz ausgelegt werden. Im Einzelfall liegt die rechtliche Würdigung jedoch stets im Ermessen des Strafgerichts.